Shana, das Wolfsmädchen
Zimmer hatte? Aber nein, bestimmt nicht! Die Geige sollte für den Bruder sein, hatte Elliot gesagt.
Das Erkerzimmer befand sich ein paar Stufen höher. Ich drückte die Klinke sachte hinunter, stieß die Tür auf, zwängte mich durch den Spalt. Ich hatte von draußen die offenen Läden gesehen. Der Raum war in Mondlicht getaucht, sodass ich die Taschenlampe nicht brauchte. Im bläulichen Schein sah ich eine Menge Gerümpel: eine alte Vitrine, ein Bettgestell, ein offener Schrank, gefüllt mit Kleidern, die ungewaschen rochen. Ausrangierte Leselampen, ein Wäschekorb aus Plastik. Neben einem Ständer mit Jagdgewehren erblickte ich einen niedrigen Schrank,den ich zu kennen glaubte. Mein Herz tat einen Sprung.
Ja, es war der Schrank, in dem Lela ihre Geige und ihre Noten aufbewahrte. Ich öffnete ihn behutsam.
Der Schrank war tief, aber leer, bis auf eine Anzahl Schachteln mit Angelgeräten, Schnüren, Bleigewichten, Ködern. Leise und schmerzerfüllt schloss ich den Schrank. Als ich mich umwandte, sah ich den Geigenkasten: Er lag auf einem kleinen Tisch, neben Sportzeitschriften, alten Comicheften und versilberten Pokalen. Eine Sekunde lang fühlte ich nichts.
Dann durchpulste mich Erregung bis in die Fingerspitzen. Ich ergriff den Kasten, spürte an dem vertrauten Gewicht, dass die Geige an ihrem Platz lag. Rasch verließ ich das Zimmer. Ich bewegte mich jetzt mit größerer Sicherheit, meine Füße fanden von alleine den Weg. Die Stufen knarrten, aber ich war schon darüber hinweg. Nur noch ein paar Schritte! Da sprang Franks Zimmertür auf. Licht erleuchtete das Treppenhaus. Ich verfehlte eine Stufe und stolperte gegen die Wand.
»Stehen bleiben! Oder ich schieße!«, schrie Frank.
Er stand auf der Treppe, im Pyjama, und richtete ein Gewehr auf mich. Das Gewehr war offenbar viel zu schwer für ihn und er brauchte zwei Anläufe, um den Hahn zu spannen. Das Geräusch ging mir durch Mark und Bein. Wir starrten uns an. Franks Augen weiteten sich vor Verblüffung.
»Shana!«
Ich wirbelte herum, rannte die Treppe hinunter. Mein Schatten huschte über die Wand. Frank polterte die Stufen hinter mir her. Schon war ich im Gang, rannte durch die Küche. Dort holte Frank mich ein. Er ließ das Gewehr fallen, wollte mich festhalten. Ich war schneller, warf ihm einen Stuhl zwischen die Beine. Er stolperte, kam wieder hoch, versuchte mir den Weg zu versperren. Doch seine Bewegungen waren ungeschickter als meine. Auf dem Tisch stand ein großer Milchkrug aus Porzellan. Ich hob den Krug, schmetterte ihn Frank auf den Schädel. Er taumelte zurück, fiel gegen den Kühlschrank und hielt sich den Kopf, benommen von dem Schlag. Schon riss ich dir Tür auf, war draußen, rannte durch den Garten. Der Hund sprang bellend hinter mir her.
Doch für ihn war es nur ein Spiel, er jaulte und wedelte vergnügt. Ich glitt unter dem Zaun hindurch, tauchte in das Unterholz ein. Überall im Haus brannte jetzt Licht. Auch Franks Eltern waren wach, ihre aufgeregten Stimmen schallten nach draußen. Ich stürmte mit fliegenden Lungen auf das Pappeldickicht zu, ergriff Parka und Rucksack und floh durch den Wald. Ich stolperte über Wurzeln und Steine, rannte durch Dornengestrüpp, das mir Kleider und Hände zerfetzte. Erst, nachdem mir endgültig die Luft ausgegangen war, blieb ich stehen. Meine zitternden Beine versagten ihren Dienst. Ich ließ mich auf den Waldboden fallen, wartete, bis das rasende Pochen in mir zu Ruhe kam. Der Tag brach an, der Himmel färbte sich rosa. Aus den Büschen erklang das erste, noch unsichere Zwitschern, mit denen die Vögel den Morgen verkündeten. Ich hatte Kopfweh, jeder Muskel bebte und meine Kehle war trocken. Ich sah auf die Uhr. Halb fünf. In einer Stunde fuhr der erste Bus nach Vancouver. Doch erschauernd kam mir in den Sinn, dass ich mich im Dorf nicht blicken lassen konnte, an der Haltestelle schon gar nicht. Ich war in Jeff Morgans Haus eingebrochen, hatte eine wertvolle Geige gestohlen und seinen Sohn auf der Flucht verletzt. Das war schlimm, das war ganz entsetzlich schlimm! Frank hatte mich erkannt, sein Vater würde Anzeige erstatten. Vielleicht hatte er schon die Polizei angerufen. Eine Personenbeschreibung war leicht, womöglich würden sie sogar ein Bild von mir veröffentlichen. Kürzlich, bei einem Ausflug, hatte mich eine Mitschülerin fotografiert. Was nun? Wie eine riesige Welle schlug Verzweiflung über mir zusammen. Ich umfasste mit beiden Armen meine Knie, wiegte mich in stummer Angst
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