Shana, das Wolfsmädchen
ausgelöscht. Es gab nur wenige Pfade, die irgendwohin zu führen schienen. An manchen Stellen hatten Naturgewalten Steinbrocken losgerissen, über die ich klettern musste. Die Wölfin war nicht zu sehen. Doch ich spürte ihre Gegenwart. Manchmal trug mir der Wind ihren Geruch zu. Mit dem Proviant musste ich sparsam umgehen, das Brot wurde trocken und der Kaffee war längst ausgetrunken. Ich hatte großen Durst. Zum Glück fand ich eine Quelle, die unter Felsblöcken sickerte. Das Wasser drang aus der feuchten Erde, die hier porös schien, und sprühte wie grünes Kristall. Ich hielt Gesicht und Hände in das wunderbar kalte Wasser, trank davon und füllte meine Thermosflasche.
Dann wanderte ich weiter. Ich richtete mich nach der Sonne, sodass ich nie die Orientierung verlor. Der Weg führte steil aufwärts. Meine Muskeln schmerzten, der Rucksack war schwer, aber ich befahl mir: Vorwärts! Von einer Anhöhe aus sah ich, wie die Wälder ihren grünen Kreis nach allen Richtungen zogen. In unendlich weiter Entfernung schimmerte der Horizont wie ein Strand, dessen innerer Rand von der Hügelkette gebildet wurde. Das Meer!, dachte ich. Müde stapfte ich weiter, überschritt mit schmerzenden Beinen den Kamm. Von nun an würde es nur noch bergab gehen, aber das machte das Laufen nicht einfacher. Bald ging die Sonne unter.
Noch eine Stunde, dann war endgültig Schluss; ich wollte meine Kräfte nicht überfordern. Ich fand eine Lichtung, auf der jede Menge Blaubeeren wuchs. Ich pflückte, so viel ich konnte. Bald war meine Hand voller Blaubeerflecken, feucht und klebrig von dem Saft, der zwischen den Fingern hindurchrann. Schokolade, Erdnussbutter und Blaubeeren! Die merkwürdige Mischung brachte mich zum Lachen. Müde streckte ich mich auf meinem Parka aus. Hoch über den Bäumen blinkten die ersten Sterne. Ich sah, wie sie heller wurden, doch bald fielen mir die Augen zu. Ich schlief ein. Es war tiefe Nacht, als ich plötzlich erwachte. Ich spürte eine Gegenwart, ein warme Berührung. Ich hob den Kopf, nicht eigentlich erschreckt, hörte ein beruhigendes Winseln. Die Wölfin war zu mir gekrochen, wärmte mich mit ihrem Körper. Ich umfasste mit beiden Armen ihre Flanken. Meine Wange ruhte auf dem weichen, warmen Fell. Das Auf und Ab ihres Atems wiegte mich in den Schlaf.
Ich erwachte, steif vor Kälte. Hinter den schuppigen Stämmen schimmerte rosa die Sonne. Die Wölfin war weg. Möglicherweise hatte ich nur geträumt. Doch nein: Ein ganz besonderer Geruch und der flach gedrückte Grasboden zeigten, dass sie in der Nacht meine Nähe gesucht hatte. Mir kam in den Sinn, dass die Wölfin mit mir wie mit einem ihrer heranwachsenden Welpen umging. Sie ließ mir viel Freiheit – sieh zu, wie du fertig wirst! –, war jedoch immer da, wenn sie meinte, dass ich Schutz brauchte.
Ich war hungrig und verwirrt und hatte Muskelkater. Ich machte einige Bewegungen, um meine Glieder zu lockern. Die Vögel lärmten in den Büschen, Bienen summten und hoch über den Bäumen kreiste ein Adler. Ein unsichtbarer Bach plätscherte. Ich ging auf das Wasser zu. Die Grashalme im Schatten waren nass und schlüpfrig. Blätter häuften sich aus dem Herbst vieler Jahre. Sie waren schwarz und weich und rochen modrig. Ich wusch mich im Bach, kämmte mein zerzaustes Haar. Auch diesmal bestand mein Frühstück aus Blaubeeren, dazu weichte ich mein letztes Stück Brot im Wasser auf. Damit waren meine Vorräte aufgebraucht. Ich warf meinen Rucksack über die Schultern und machte mich auf den Weg. Hier auf dem Bergkamm schien die Sonne, aber das Tal war noch mit Nebel gefüllt. Von einem Augenblick zum anderen veränderten die Nebelschwaden Form und Farbe. Dann lösten sich die Dämpfe auf, alles ringsum glänzte, funkelte, strahlte. Die bewaldeten Höhenzüge waren das Reich der Tiere, doch außer Vögel aller Art sah ich nur ein gestreiftes Stinktier und einige Eichhörnchen, die ruhelos von Zweig zu Zweig sprangen.
Einmal hörte ich bachabwärts das laute Klatschen massiger Biberschwänze. Die Nähe der Wölfin schien die Tiere zu beunruhigen. Tagsüber sah ich sie wenig. Ich nahm an, dass sie schlief, denn Wölfe gehören zu den Tieren, die tagsüber ruhen. Sie erwachen erst bei Nachteinbruch, um Beute zu reißen. Aber es machte mir nichts aus, ich fühlte die Gewissheit in mir, dass sie über mich wachte. In dieser zweiten Nacht kam sie, als ich bereits eingeschlafen war. Sie drehte sich drei- oder viermal um sich selbst, kratzte die Erde und
Weitere Kostenlose Bücher