Shanera (German Edition)
Fläche, etwas größer als zuvor, und das Drumherum war verschwunden.
„Wie kann das sein?“, fragte Koras. Seine Stimme klang gereizt. „Erst erscheinen Bilder, die zuvor unsichtbar waren, und nun verändern sie sich durchs Anfassen.“
Shanera wusste keine Antwort. Sie tippte wieder auf die Fläche, an verschiedenen Stellen des Textes, aber diesmal passierte nichts.
„So, das war’s. Die Vorstellung ist beendet. Mehr gibt’s nicht zu sehen.“
„Ha ha. Und was ist, wenn ich hier drauf tippe?“ Zela ließ die Finger über die weiteren farbigen Symbole am Rand gleiten, was tatsächlich zu einer Folge sich verändernder Bilder führte, an deren Ende sie wieder auf dem Ausgangsbild waren. Zumindest sah es recht ähnlich aus. Bis auf …
„Der war vorher nicht da, das weiß ich.“, meinte Zela bestimmt und deutete vorsichtig auf eine gelbe Form, ohne sie jedoch zu berühren.
„Ja, der wäre mir auch aufgefallen.“, bestätigte Shanera.
Es handelte sich eindeutig um eine recht realistische Darstellung eines kleinen, gelben Vogels von einer ihnen unbekannten Art. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass er sich leicht bewegte. Vielleicht atmete er. Shanera war inzwischen über den Punkt hinaus, wo sie sich noch wunderte. Sie seufzte und tippte dann kurz entschlossen auf den Vogel. Der schien ein wenig zur Seite zu hüpfen und machte damit den Platz frei für einen Kreis von kleinen Bildern und einem längeren Schriftblock.
„Aha. Vielleicht können wir mit den Bildern mehr anfangen. Denn bevor ich diese Schrift entschlüsselt habe, sind wir alt und grau, das kann ich Euch sagen.“
„Vielleicht hilft Dir ja das gelbe Vögelchen, wer weiß?“, neckte sie Koras.
„Hör bloß auf, mir reicht schon der eine Vogel, den ich aufgesammelt habe.“
„Und der, den Du vorher schon hattest.“, steuerte Zela mit Unschuldsmiene bei.
Shanera blickte sie nachdenklich an. „Ich glaube, Du willst doch noch ein Bad nehmen, ja? Warte, ich helfe Dir.“
„Nein!“ Zela kicherte, als Shanera sie packte und ein wenig durchkitzelte. „Bitte nicht, ich will auch wieder brav sein.“
„Das würde ich Dir auch raten.“
Sie ließ von Zela ab und wandte sich wieder der Schriftrolle zu. Der neu erschienene Bilder-Kreis enthielt einiges, das sie nicht deuten konnte. Eine der Darstellungen zeigte jedoch etwas, das auch Koras bekannt vorkam.
„Sieht fast aus wie dieser Fluss.“, brummte er.
Inzwischen glaubte Shanera, das Prinzip verstanden zu haben. Sie drückte den Finger auf das fragliche Bild. Sofort wuchs es auf die gesamte Größe der Sichtfläche. Tatsächlich wurden Bäume und Wasser erkennbar, allerdings aus ungewohnter Vogelperspektive. Shanera blickte unwillkürlich gen Himmel.
Dort war natürlich nichts zu sehen, nicht einmal Windbote. Trotzdem, der Realismus des Bildes war beinahe erschreckend. Der Fluss erschien als ein schmales Band. Als sie die Fläche ein wenig drehte, um die Darstellung den anderen zu zeigen, drehte sich der Inhalt in die Gegenrichtung. Der Fluss blieb parallel zu seinem realen Vorbild, auch als Shanera die Rolle einmal im Kreis drehte.
Vorsichtig legte sie das Ding auf ihren Gepäckstapel in der Mitte des Bootes und atmete einmal tief durch.
„Ich finde es irgendwie erschreckend.“, sagte sie. „Es sieht so harmlos aus, und doch … „
Die anderen schienen ihre Gefühle zu teilen, jedenfalls machte niemand Anstalten, die Schriftrolle an sich zu nehmen.
„Wenn wir das nach Hause bringen würden, würde ein Aufruhr ausbrechen.“, meinte Koras nach einer Weile.
„Falls es nicht die Priester vorher schnappen und irgendwo in ihrem Tempel verstecken und vergraben würden.“, sagte Shanera.
„Du bist ungerecht.“, erwiderte Zela. „Die Priester sind nicht so … so … wie Du sagst. Und selbst wenn es so wäre, Koras hat doch recht, viele Leute würden es nicht verkraften. Es ist wie dunkle Magie.“
„Es gibt keine Magie. Ich dachte, das wäre auch der Konsens der Priester. Und wenn es etwas so Neues und Unerhörtes ist – wäre es dann nicht ihre Aufgabe, es zu erforschen und die Kintari damit vertraut zu machen, als es vor ihnen wegzusperren?“
„Ich glaube wirklich nicht, dass …“, fing Zela an, doch Shanera unterbrach sie.
„Doch, genau das würden sie tun, da bin ich mir inzwischen sicher. Denk doch mal an die Ältesten. Würden die sagen ‚Seht her, was wir gefunden haben. Es wird Zeit, dass wir uns ein bisschen in der Welt umschauen,
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