Shanera (German Edition)
damit wir die Dinge verstehen, die dort vorgehen.‘? Nein, das würden sie nicht, denn sie hätten Angst, damit ihre eigene Macht und ihren Führungsanspruch zu untergraben. Das ist doch genau der Grund, warum ich weggegangen bin. Unsere Gesellschaft ist unbeweglich und starr. Wir können erst dann zurück, wenn wir etwas gefunden haben, das man nicht mehr verstecken kann. Sonst bekommen wir nur Ärger und es wird sich gar nichts ändern.“
Ein etwas unbehagliches Schweigen folgte dieser Bekundung. Weder Zustimmung noch Widerspruch standen klar genug in den Köpfen der anderen, um diese Diskussion führen zu können und wollen.
Schließlich wurde es Koras zu langweilig. „Fahren wir weiter. Von hier aus könnten wir sowieso nicht umkehren, die Strömung ist zu stark. Zela, gehst Du nach hinten und nimmst ein Paddel?“ Er selbst ging nach vorne. „Du musst aufpassen, dass wir uns nicht drehen. Wir beide nehmen die Stangen und stoßen uns von dem Ding da ab.“
Shanera und Koras arbeiteten mit vereinten Kräften, um das Floß gegen die Strömung und seitlich von dem Hindernis wegzudrücken. Als sie es beinahe geschafft hatten, begann sich das Floß, gefährlich zu drehen, doch mit einem letzten Stoß und hektischem Paddeleinsatz durch Zela gelang es ihnen, die Richtung zu halten. Bald trieben sie wieder in der Strömung dahin und konnten sich vom einsetzenden Regen den Schweiß abwaschen lassen.
Als Shanera nach einiger Zeit einen Blick auf die Schriftrolle warf, war das Bild verschwunden und die Oberfläche leer. Doch sie wusste, dass es keine Einbildungen oder Trugbilder gewesen waren. Momentan verspürt sie jedoch keine Lust, sich weiter mit dem Ding zu beschäftigen. Vielleicht hätte sie sich morgen an den Gedanken einer lebendigen Schriftrolle gewöhnt, dann würde sie weitersehen.
Sie schlief schlecht in dieser Nacht. Zu viele Gedanken gingen ihr im Kopf herum, zudem wurde sie durch Koras und Zela gestört, die am anderen Ende des Flosses noch weit in die Nacht hinein miteinander flüsterten. Dabei konnte sie wahrscheinlich noch froh sein, dass es beim Flüstern blieb. Sie hatte bemerkt, dass Zela darauf achtete, ihren Vorrat an Tüpfelkraut aufzustocken. Daraus konnte ein Mittel hergestellt werden, das möglichen Folgen eines näheren Beisammenseins vorbeugte. Geburtenkontrolle war in den Dörfern eine Notwendigkeit, denn der Platz und die Nahrungsreserven, die sie zum Leben brauchten, waren begrenzt.
Auch sie selbst hatte etwas dabei, allerdings mehr aus allgemeiner Vorsicht. Es sah nicht so aus, als würde sie es demnächst benötigen. Gern hätte sie sich die Decke über den Kopf gezogen, aber es war einfach zu warm. Endlich wurde es still und sie driftete in den Schlaf, während die Bilder seltsamer transparenter Schriftzeichen und Symbole langsam in ihrem Kopf verblassten.
*
Tag 20
Am nächsten Tag war es durchgehend trübe, der übliche Sonnenschein zwischen den Regengüssen blieb aus. Die Schwüle war beinahe unerträglich und alle behielten nur noch die notwendigsten Kleidungsstücke am Leib.
Zu allem Überfluss hatten sie am frühen Morgen einige große und potenziell gefährlich aussehende Tiere ausgemacht. Sie trieben träge im Wasser des Flusses dahin und begleiteten ihr Floß zeitweise, vielleicht verfolgten sie es auch. Bäder im Fluss erschienen daher wenig verlockend und sie mussten beim Lenken noch größere Vorsicht walten lassen.
Der bisher recht eintönige Urwald mit seinen immer gleichen Mustern aus Bäumen und Schlingpflanzen begann, sein Gesicht zu wandeln. Stellen mit vergleichsweise niedrigem, buschigen Bewuchs wechselten sich ab mit Bereichen gewöhnlichen Dschungels, die wiederum unterbrochen waren durch Haine von Riesenbäumen, die alles andere um fast das Doppelte überragten.
Am späten Morgen trieben sie durch ein Gebiet leichter Nebel über dem Fluss. Aufgrund des Dunstes konnten sie nicht weit sehen, doch nach einiger Zeit bemerkten sie etwas wie einen großen Schatten am Himmel vor ihnen. Die Schreie der Vögel und das Plätschern des Wassers hatten plötzlich einen anderen Klang, voller und Echos mischten sich darunter.
Der Fluss weitete sich auf zu einem kleinen See, in dessen Mitte eine Insel empor ragte. Nur dass es keine Insel war, sondern ein Geflecht aus mannshohen Wurzeln, die in einen Stamm mündeten, den man nur als gigantisch bezeichnen konnte. Man hätte wohl selbst das größte Gebäude aus ihrem Dorf darin unterbringen können, und damit war noch
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