Shanghai Love Story
»Ja, ich denke schon. Man lernt, das zu mögen, was man tut. Ich verdiene jetzt gutes Geld. Ich kam nach China, nur mit einem einzigen Koffer, und habe innerhalb von drei Jahren meine eigene Firma aufgebaut. Mir gehören zwei Apartments. Ich habe euch Mädchen auf Privatschulen schicken können, und ich gehe davon aus, dass ich hier in China genug Geld machen werde, um mich zur Ruhe setzen zu können.
Ich weiÃ, dass das alles im Augenblick sehr verwirrend für dich ist, Liebes. Deshalb solltest du meinen Rat annehmen. Das Problem mit deiner Generation ist, dass keiner von euch weiÃ, wohin es gehen soll. Ihr seid völlig orientierungslos. Wahrscheinlich habt ihr zu viel Auswahl. Als ich von der Schule abging, gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man studierte, oder man suchte sich einen Job â¦Â«
Anna lieà ihre Gedanken wandern. Diesen Vortrag hörte sie nicht zum ersten Mal. Sie dachte an den wunderschönen Chenxi und sein fantastisches Gemälde. Wie kam es, dass zwei Menschen, die jeweils am anderen Ende der Welt aufwuchsen, genau dieselbe Vision hatten? Nach dem, was sie heute Nachmittag erlebt hatte, war die Möglichkeit, dass sie nicht zusammenkommen würden, gänzlich ausgeschlossen. Sie war sich sicher, dass er der Grund war, warum sie nach China gekommen war. Nichts passierte ohne einen Grund.
Der Kellner kam zum Tisch und Mr White gab rasch seine Bestellung auf, damit er mit seiner Belehrung fortfahren konnte, aber Anna kam ihm zuvor. »Was hältst du von Chenxi?«, fragte sie wagemutig.
Mr White runzelte die Stirn. »Wie bitte?«
»Du weiÃt schon, der junge Chinese von der Akademie.«
»Hast du mir überhaupt zugehört, Anna?« Er richtete sich auf und schaute seine Tochter misstrauisch an. »Du hast doch nicht etwa ein Auge auf ihn geworfen, oder?«
»Vielleicht â¦Â« Sie spielte mit ihrer Gabel herum.
»Ach Liebes. Du bist doch erst drei Tage hier. Das ist viel zu kurz, um irgendetwas zu begreifen.«
»Was begreifen?«
»Schau, Herzchen.« Seine Stimme wurde weicher. »Chenksi scheint ein netter Kerl zu sein, und ich kann verstehen, dass er dir gefällt. Aber du musst vorsichtig sein.«
»Dad!« Anna hätte sich beinahe verschluckt. »Was soll das? Ich weià über Verhütung und den ganzen Kram Bescheid, wenn du das meinst. Ich bin keine Jungfrau mehr.«
»Aber das meine ich gar nicht. Du musst nur aufpassen, worauf du dich da einlässt. Ich weiÃ, es klingt gemein, Liebes, aber ein chinesischer Junge würde alles dafür geben, mit einem australischen Mädchen auszugehen. Du bist vielleicht einsam, aber wenn ich dich am Freitagabend mit ins Konsulat nehme, wirst du ein paar Leute kennenlernen, die dir bestimmt gefallen. Es sind gewöhnlich ein paar ausländische Studenten von der Universität da, die ganz in der Nähe der Kunstakademie liegt. Ich kenne da einen netten französischen Jungen, der regelmäÃig ins Konsulat kommt. Er studiert Mandarin.«
Anna starrte ihn an. Mit einem Schlag wurde ihr klar, dass ihr Vater, der seit drei Jahren in China lebte, keine chinesischen Freunde hatte. Er beschäftigte etliche Einheimische: Putzfrauen, Fahrer, sogar Ingenieure, aber er gab sich auÃerhalb der Arbeit nicht mit ihnen ab. Waren alle Ausländer, die in fremden Ländern lebten, so wie ihr Vater? Sie beschloss, in Zukunft ihre Gedanken über Chenxi für sich zu behalten.
Schweigend verspeisten sie das importierte italienische Mahl und tranken den importierten roten Wein. Der StraÃenlärm Shanghais drang von unten nur gedämpft durch die Doppelverglasung der Fenster des Restaurants im obersten Stock.
Weiter unten, die Zhong Shan Lu-StraÃe entlang und am Markt vorbei, lag die Akademie der Bildenden Künste. Und wenn man vor dem hohen Eisentor stehen blieb und genau hinschaute, konnte man eine einzelne Glühbirne in dem Zimmer im zweiten Stock brennen sehen, wo Chenxi auf dem Boden saÃ. Er hatte für seine Mutter das Abendessen gekocht, hatte die erschöpfte Frau ins Bett gebracht und war dann hierher gekommen. Er saà nachdenklich über einem Bild. Ãber einem neuen Bild, das er an diesem Abend begonnen hatte. Das Bild eines Mädchens.
Am anderen Ende Shanghais saà das Motiv von Chenxis neuem Bild auf dem Bett in dem klimatisierten Apartment oberhalb des Fuxing-Parks. Anna nahm ihr Tagebuch zur Hand und
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