Shanghai Love Story
Tee.«
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Torwächter sie und Chenxi beobachtete.
»Nein, danke. Ich müssen nach Hause«, sagte Chenxi und schwang sein Bein über das Fahrrad. »Wir uns sehen morgen in Akademie.«
Verwirrt schaute ihm Anna nach, bis er um die Ecke bog und ihren Blicken entschwand.
Kapitel 8
Mr White kannte jeden im Shanghai Hilton. Hier war er wichtig und wurde respektiert. In dem italienischen Restaurant reservierte man ihm stets denselben Tisch, und der Manager machte ihm ein Kompliment über die zauberhafte Dame, die ihn an diesem Abend begleitete. Er zwinkerte Anna zu, wollte sie an diesem Scherz teilhaben lassen, aber Anna fragte sich, wie viele Damen schon bei ihrem Vater an seinem Stammtisch gesessen hatten, seit er in China war. Anna gemahnte sich daran, dass er und ihre Mutter nicht mehr zusammenlebten; ihre Eltern waren zwar nicht geschieden, lebten aber getrennt. Das machte ihn wohl zu einem freien Mann. Aber an den Gedanken, dass ihr Vater sich mit anderen Frauen verabredete, musste sie sich erst gewöhnen.
»Isst du denn niemals chinesisch?«, fragte Anna ihren Vater, als sie sich an den Tisch setzten. Sie stellte die Vase mit den roten Rosen beiseite, damit sie sein Gesicht sehen konnte. Ein chinesischer Kellner näherte sich lautlos von hinten, goss Wein ein und legte Servietten bereit.
»Oh doch, manchmal. Aber weiÃt du, Liebling, wenn du drei Jahre in China gelebt hast, bekommst du das Essen hier langsam satt. Wie auch immer, es ist wunderbar, dass du hier bist. Wir haben uns in letzter Zeit nur selten gesehen, nicht wahr? Hatten kaum Gelegenheit, miteinander zu reden.«
Anna nahm einen Schluck Wein. Sie wusste, was jetzt kam.
»Also, hast du dich schon entschieden, welche Kurse du im nächsten Jahr belegen willst? Die Anmeldefrist für die Universität läuft doch bald aus, nicht wahr?«
Der Kellner präsentierte ihnen die Speisekarte und nannte ihnen die Spezialitäten des Hauses. Er hatte einen amerikanischen Akzent, wie viele junge Chinesen. Sie schnappten ihn bei CNN und Voice of America , dem anderen hierzulande verfügbaren Sender, auf. Anna wartete, bis er wieder gegangen war.
»Nun, ich denke immer noch über die Malerei nach, Dad«, setzte sie an. Ihr erster Tag bei Lehrer Dai hatte ihre Leidenschaft neu entfacht.
Mr White nippte langsam an seinem Weinglas und räusperte sich dann. »Tja, das ist schön, Liebling«, sagte er. »Du kannst ja am Wochenende malen. Aber was willst du studieren?«
»Es gibt Kunstkurse, die ich belegen könnte â¦Â«
Mr White fiel ihr ins Wort. »Hör zu, Liebling. Du hast bereits ein Jahr verschwendet. Ich werde nicht zulassen, dass ein weiteres dazukommt.«
»Aber die Malerei ist das Einzige, was mich wirklich interessiert.« Annas Stimme glich einem Quieken.
Mr White stützte die Ellbogen auf das blütenweiÃe Tischtuch und beugte sich ein wenig zu ihr hinüber. »Ich weiÃ, du denkst, dass es ungeheuer viel Spaà machen würde, eine Künstlerin zu sein.« Aus seinem Mund klang es wie ein Schimpfwort. »Aber ich bitte dich, Liebes, sei doch mal ehrlich: Mit Kunst lässt sich kein Geld verdienen. Wie wäre es, wenn du einen Kurs in Wirtschaftswissenschaft belegst, dann kannst du später im Berufsleben deine Erfahrung nutzen, die du hier in China gemacht hast.«
Anna hasste es, dass er sie »Liebes« nannte, wenn er sich über sie ärgerte. Warum konnten sie nicht ehrlich zueinander sein? Ihre ganze Familie hatte eine regelrechte Phobie gegen offene Auseinandersetzungen entwickelt, aus Angst, jemanden zu verletzen. Der Preis war der Verlust der Ehrlichkeit. Die Ehe ihrer Eltern war daran zerbrochen. Schon als kleinen Kindern war Anna und ihren Schwestern eingetrichtert worden: Wenn man nichts Nettes zu sagen hat, sagt man besser gar nichts.
»Das ist wirklich das Letzte, was ich tun möchte«, fauchte sie und war über sich selbst überrascht.
»Schau mal, Anna, wir wollen doch realistisch bleiben. Wir können nicht immer das tun, was wir tun wollen.«
»Ach nein?«
»Nein, natürlich nicht! Das ganze Leben besteht aus Kompromissen.«
Anna wurde unruhig. Sie trank einen Schluck Rotwein und sah durch das Weinglas hindurch die roten Pfützen, die das Kerzenlicht auf die Tischdecke zauberte. »Gefällt dir deine Arbeit?«
Ihr Vater zögerte, ehe er antwortete.
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