Shanghai Love Story
dachte nach.
Kapitel 9
Am nächsten Morgen kam Anna zu spät zur Kunstakademie. Sie war verschwitzt und auÃer Atem, aber stolz, dass sie sich mit ihrem pinkfarbenen Fahrrad mutig in den Verkehr von Shanghai gestürzt hatte.
Die Studenten waren bereits an der Arbeit. Sie kopierten Gemälde auf Seide und alle schauten auf, als Anna eintrat. Alle auÃer Chenxi. Lehrer Dai nickte und klopfte auf Annas Arbeitstisch. Hatte er geglaubt, dass sie nicht wiederkommen würde? Der mondgesichtige Junge strahlte und drückte Anna einen Zettel in die Hand, als sie an ihm vorbeiging. Sie steckte ihn in ihre Tasche.
Lehrer Dai stupste Chenxi an, der aufstand und in aller Ruhe erst einmal seinen Pinsel auswusch und die Borsten zu einer dünnen Spitze zwirbelte, ehe er herbeischlenderte, um für Anna zu übersetzen. Sie grinste ihn an und er schenkte ihr ein kaum merkliches Lächeln.
»Lehrer Dai sagen, du heute versuchen Bambus.«
»Bambus?«, sagte Anna fragend.
»Bambus.«
Anna starrte auf das Zeitungspapier, das auf ihrem Tisch lag. Hielt man sie nicht für gut genug, um auf Reispapier zu malen?
Lehrer Dai schaute zwischen Anna und Chenxi hin und her, als ob er ein Tennisspiel beobachtete. Als er sah, dass Chenxi mit seiner Ãbersetzung fertig war, nickte er, lächelte und nahm einen von Annas Pinseln aus dem Bündel. Er tauchte ihn in einen Becher mit warmem Wasser, um den Schutzleim aus dem neuen Pinsel zu spülen. Dann bereitete er die Tusche zu.
Fasziniert schaute Anna zu, und Chenxi trat hinter sie, um zu übersetzen, wenn es nötig war. Dai Laoshi rieb die Stangentusche im Kreis über den flachen Stein, auf den er ein wenig Wasser geträufelt hatte. Langsam vermischte sich der Puder mit dem Wasser und wurde zu flüssiger Tusche. Lehrer Dai rieb die Stangentusche mit langsamen, meditativen Kreisen über den Stein. Dann lieà er es Anna versuchen.
Anna verlor sich selbst im Rhythmus des Reibens. Was für ein friedlicher, ruhiger Anfang eines neuen Tages.
Nachdem die Tusche fertig und der Pinsel ausgewaschen war, tauchte Dai Laoshi die Spitze des Pinsels in die Tusche, wobei er Anna anwies, weder zu wenig noch zu viel Tusche aufzunehmen. Dann positionierte er seinen Arm mit einer lockeren, leichten Beugung vor seinen Körper. Der Pinsel zeigte senkrecht nach unten. Er berührte mit der Spitze das Zeitungspapier und schob den Pinsel von sich weg.
»Es ist wichtig, du malen mit chi ⦠mit Energie«, übersetzte Chenxi, »nicht nur mit Arm. Chi kommen aus Bauch, gehen durch Arm, durch Pinselspitze. Wenn du mit chi malen, du haben guten, starken Pinselstrich.«
Dai Laoshi hob den Pinsel und drückte ihn dann wieder nach unten, malte einen Strich genau über dem ersten. Er schaute zu Anna, um sicherzugehen, dass sie ihn genau beobachtete. Dann malte er weitere Striche, immer übereinander, bis er die Oberkante des Zeitungspapiers erreicht hatte.
»Bambusstängel«, verkündete Chenxi.
Mit sicheren Bewegungen malte Dai Laoshi die Zweige und Blätter des Bambus, fächerte sie sauber und ordentlich aus. Es sah so einfach aus. Trügerisch einfach, wie Anna nach ihrem ersten, wackeligen Versuch feststellen musste.
Chenxi und Dai Laoshi kicherten über die ungeschickten Bemühungen der Ausländerin, und Chenxi erklärte Anna, dass sie noch mindestens bis zum Ende der Woche Bambus auf Zeitungspapier malen musste.
»Bis zum Ende der Woche?« Anna runzelte die Stirn. Sie würde viel lieber auf Seide malen, wie die anderen.
Chenxi schaute sie streng an. »Mindestens bis Ende von Woche!«
Anna drehte sich um und fing an, einen weiteren Bambusstängel zu malen.
Nachdem sie zwei Stunden lang Bambus gemalt hatte, ohne wirkliche Fortschritte erzielt zu haben, wurde sie unruhig und schaute aus dem Fenster. Von ihrem Platz aus konnte sie zum Fahrradständer schauen, wo ihr glänzendes Rad wie ein bunter Lutscher aus dem rostigen und verbeulten Haufen herausstach. Auf der anderen Seite des Fahrradständers erhob sich ein bedrückend graues Betongebäude, das wie ein Gefängnis aussah. Hinter den Fenstern sah sie Reihe um Reihe schwarzer Hinterköpfe, die fleiÃig über ihre Arbeit gebeugt waren. Sie streckte sich und wandte sich wieder um.
Der mondgesichtige Junge schaute sie an, und Anna erinnerte sich wieder an den Zettel, den er ihr zugesteckt hatte. Sie holte ihn aus ihrer Tasche und
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