Shanghai Love Story
auf Chenxis Fahrrad sitzend, sah Anna die Erde unter sich dahinsausen. Viel zu schnell. Wenn Anna nach oben schaute, machte sie der sternenlose Himmel, der sich auf sie niederzusenken schien, schwindelig. Und so konzentrierte sie ihren Blick auf Chenxis Rücken.
Sie legte ihre Wange leicht gegen Chenxis Rücken und zuckte dann plötzlich zurück, weil sie nicht mehr sicher war, ob sie mit Chenxi fuhr oder mit Laurent. Sie betrachtete den Arm und versuchte anhand der Hautfarbe zu bestimmen, auf wessen Fahrrad sie saÃ, aber die Farbe schien sich im Licht der StraÃenlaternen ständig zu verändern. Sie fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Und als es so weit war, kam es ihr so vor, als wäre sie eben erst auf das Fahrrad gestiegen. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wo sie überhaupt hinwollten. Sie hätte sich am liebsten einfach nur hingelegt.
Chenxi grinste leicht, als er denselben bulligen Mann in dem schwarzen Anzug am Eingang der Bar stehen sah. Auch seine Pose war die gleiche wie beim ersten Mal: Breitbeinig stand er da, mit vor der Brust verschränkten Armen. Es war, als hätte er sich seitdem keinen Millimeter bewegt. Wenn ihn der Mann erkannte, so gab er es durch nichts zu erkennen. Chenxi ging geradewegs durch die Eingangstür, flankiert von zwei Ausländern. In meinem Land sind meine Landsleute die schlimmsten Rassisten, dachte er bitter.
Kapitel 11
Anna lag in ihrem Bett und lauschte der frühmorgendlichen Walzermusik im Park. Sie wusste nicht mehr, wie sie nach Hause gekommen war. Sie erinnerte sich daran, dass sie in der Bar gesessen und Cola mit Rum getrunken hatte, und als sie sich umgedreht hatte, war Chenxi nicht mehr da gewesen.
Laurent hatte ihr ständig nachgeschenkt, bis Anna plötzlich eine Welle von Ãbelkeit verspürt hatte. Ein Kitzeln auf den Innenseiten ihrer Wangen. Laurent hatte wohl bemerkt, wie blass sie geworden war, denn er hatte sie nach drauÃen gebracht. Sie erinnerte sich, dass er etwas abseits stehen geblieben und eine Zigarette geraucht hatte, während sie sich in die nächsten Büsche erbrochen hatte. Auch an ein Taxi glaubte sie sich erinnern zu können.
Anna hörte den Wecker ihres Vaters klingeln und dann die vertrauten Geräusche: Toilette. Duschen. Rasieren. Frühstück. Zähneputzen. Später klopfte er an ihre Zimmertür. Sie zuckte zusammen.
»Liebling, ich bin heute Vormittag im Büro. Zum Mittagessen komme ich wieder. Gehtâs dir besser? ⦠Anna? ⦠Dieser nette französische Student, der dich gestern Nacht nach Hause gebracht hat, meinte, es käme von den Nudeln, die du gegessen hast. Ich habe dir doch gesagt, dass du in den einheimischen Restaurants nichts essen sollst. Du hast doch genug Geld, um dir anständiges Essen leisten zu können, nicht wahr? ⦠Liebes? ⦠Ich habe noch etwas Geld auf den Tisch gelegt, für alle Fälle. Wenn du hier bist, wenn ich zum Mittagessen zurückkomme, können wir ausgehen und ein schönes Steak essen. Ich kenne ein Restaurant, das die Steaks aus Amerika importiert ⦠Nun, okay, Liebes. Ich rufe dich an, wenn es geht. Vergiss nicht, die Aiyi kommt heute.«
Anna rührte sich nicht, bis sie hörte, wie sich die Wohnungstür hinter ihm schloss. Sie merkte, dass es ihr gar nicht so schlecht ging, wenn sie nur still liegen blieb. Nachdem die Tänzer gegangen waren und sie nichts mehr hören konnte auÃer dem gedämpften Verkehrslärm, schlief sie wieder ein.
Das Geräusch von flieÃendem Wasser weckte sie auf. Sie schaute auf ihre Uhr, aber es war erst viertel nach zehn. War ihr Vater früher nach Hause gekommen? Sie lag da und lauschte. Jetzt erwachte der Fön zum Leben, und jemand kramte im Badezimmerschrank herum. Sie lag still.
Die Tür zu ihrem Zimmer öffnete sich und Anna kniff schnell die Augen zu. Trotzdem konnte sie einen Blick auf die Aiyi erhaschen, die mit einem Handtuch um den Leib und mit Annas Lippenstift auf dem Mund dastand, aufkeuchte und sich hastig zurückzog. Anna hörte, wie sie sich im Badezimmer anzog.
Kurze Zeit später sprang der Staubsauger an, und danach klirrten leise die Vasen, während sie abgestaubt wurden. Anna rollte sich auf die Seite und holte ihr Tagebuch aus der Nachttischschublade. Stöhnend setzte sie sich auf und wartete, bis ihr Kopf dem Rest ihres Körpers gefolgt war. War es möglich,
Weitere Kostenlose Bücher