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Shanghai Love Story

Shanghai Love Story

Titel: Shanghai Love Story Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Rippin
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keinen Millimeter.

    Eine hochgewachsene Frau erwartete sie an der Haltestelle in Shendong. Ein hagerer Junge in Ledersandalen sprang aufgeregt um sie herum. Sie lächelte, als Anna aus dem Bus stieg, und nahm die Hände der Ausländerin in ihre eigenen. Sie hatte Chenxis Lächeln, aber anders als bei ihm lächelten auch ihre Augen. Kleine Fältchen bildeten sich an den Augenwinkeln. Anna vermutete, dass sie älter war, als sie aussah.
    Man konnte einem Chinesen sein Alter kaum ansehen. Einmal hatte ein alter Mann Anna auf der Straße angesprochen und sie in perfektem Englisch gebeten, sein Alter zu schätzen. Anna hatte sich auf fünfzig festgelegt und insgeheim sechzig vermutet. Sie war erstaunt, als sie erfuhr, dass der Mann achtundsiebzig Jahre alt war! Er war auf sein Fahrrad gestiegen und weggefahren, wobei er zufrieden kicherte.
    Â»Deine Schwester?«, fragte Anna.
    Â»Jüngere Schwester von Mutter. Ich haben keine Geschwister.«
    Â»Dann ist sie also deine Tante.«
    Chenxi stellte sie einander vor. Der Name der Frau war Yang Wen und der schlaksige Junge hieß Zhou Jin. Als sie losgingen, erklärte Chenxi Anna, dass chinesische Frauen ihre Mädchennamen bei der Vermählung behielten, was der Grund war, warum der Familienname der Tante ein anderer war als der ihres Sohnes. Das Kind nahm automatisch den Nachnamen des Vaters an.
    Sie waren nur ein kleines Stück die Straße entlanggegangen, als Yang Wen vor einem Geschäft, in dem ein Fotolabor untergebracht war, stehen blieb und Chenxi etwas zumurmelte. Chenxi seufzte und sagte: »Schwester will dich Leuten zeigen.«
    Â»Tante«, korrigierte ihn Anna. »Ja, natürlich.«
    Im Gänsemarsch betraten sie den kleinen Laden, und ein dicker Mann mit einem breiten Grinsen und fettigen Haaren kam hinter der Verkaufstheke hervor, um sie zu begrüßen.
    Â»Oh!«, sagte er und lächelte Anna an. »Australien, Australien.« Offensichtlich hatte er sie erwartet.
    Â»Ja«, sagte Anna.
    Â»Sehr gut! Sehr gut!« Der Mann hob beide Daumen hoch.
    Er holte ein paar Stühle hervor, und sie setzten sich und fingen an, sich zu unterhalten. Dabei schauten sie immer wieder zu Anna, als ob sie sie in das Gespräch mit einbeziehen wollten. Chenxi stand an der Wand und betrachtete einen Kalender, deshalb sah Anna davon ab, ihn um eine Übersetzung zu bitten.
    Zwanzig Minuten später standen sie auf und verabschiedeten sich. Nach einer kurzen Strecke brachte Chenxis Tante erneut ihre Bitte vor, nur dass sie Anna diesmal dem Gemüsehändler vorstellen wollte.
    Fast zwei Stunden später, nachdem Anna jeden Ladenbesitzer und jeden Postbeamten in Shendong kennengelernt hatte, kamen die vier endlich in Yang Wens Haus an. Anna war erschöpft, nachdem man sie begutachtet und betastet hatte wie ein Pony, das zum Verkauf stand. Aber gerade als sie dachte, sie hätte es überstanden, sah sie, dass in dem kleinen Wohnzimmer die andere Hälfte der Stadt saß und auf sie wartete.
    Auf dem runden Tisch aus Palisanderholz lagen Erdnuss- und Mandarinenschalen; Menschen saßen auf Stühlen und auf der Kante eines großen Bettes. Sie rauchten und schwatzten. Es war offensichtlich, dass sie schon geraume Zeit warteten.
    Â»Ah!«, riefen sie entzückt aus, als Anna hereinkam. Sie sprangen auf, zogen ihr einen Stuhl herbei, reichten ihr Tee und Nüsse und Obst. Anna versuchte, Chenxis Blick einzufangen, aber er konzentrierte sich ganz darauf, eine Mandarine zu schälen.
    Einer nach dem anderen verabschiedeten sich die Besucher, und Chenxi stellte Anna die Familie seiner Tante vor. Yang Wens Ehemann war groß, mit einer breiten Nase und dicken Brillengläsern. Sein Name war Zhou Yi, und auch er hieß Anna herzlich willkommen. Der älteste Sohn, der fünfzehn war, hatte die Nase seines Vaters und seine Sehschwäche geerbt. Er stellte sich Anna selbst in gebrochenem Englisch als Zhou Lai vor, und alle lachten gutmütig. Er erzählte, dass er in der Schule Englisch lernte und froh sei, jemanden zum Üben zu haben. Schließlich wurde Anna noch einer alten Dame mit goldenen Ringen in den dunklen Ohrläppchen vorgestellt, der Mutter von Chenxis Onkel. Aber Anna durfte sie Nai nai nennen, was Großmutter bedeutete. Hierauf mussten wieder alle lachen.
    Anna reichte Chenxis Tante eine Schachtel Pralinen, die sie mitgebracht hatte. Die Tante lächelte und bedankte sich und legte

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