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Shanghai Love Story

Shanghai Love Story

Titel: Shanghai Love Story Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Rippin
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sie die Augen wieder aufschlug, sah sie nur Zentimeter vor ihrem Gesicht das Gesicht einer anderen Frau, die sie mit offenem Mund anstarrte. Anna nickte ihr mit einem unsicheren Lächeln zu. Diese Geste schien die anderen Frauen aus ihrer Erstarrung zu reißen. Eine nach der anderen drehte sich um. Sie wuschen einander den Rücken und warfen nur hin und wieder einen Blick in Annas Richtung.
    Anna schrubbte sich so gründlich, dass es für mindestens drei Tage reichte, zog sich schnell an und ging wieder zu Yang Wen, die draußen auf sie wartete.

    Die Tage, die Anna in Shendong verbrachte, vergingen wie im Flug. Morgens schrieb sie in ihr Tagebuch oder schlenderte durch die Straßen. Nach einem frühen Mittagessen bestiegen sie und Chenxi die Fahrräder und fuhren hinaus aufs Land, um Naturstudien zu machen. Manchmal verbrachten sie einen ganzen Nachmittag damit, das sich verändernde Licht auf einem Heuhaufen zu beobachten; an anderen Tagen saßen sie da und skizzierten das Gewimmel auf einem Marktplatz. Wenn sie miteinander allein waren, entspannte sich Chenxi, und manchmal erwischte sie ihn – zu ihrem großen Entzücken – dabei, wie er sie skizzierte. Aber er weigerte sich stets, ihr diese Skizzen zu zeigen.
    Manchmal betrachtete er ein Bild, an dem sie arbeitete, oder fragte sie bezüglich der Komposition seines eigenen Werks um Rat. Sie war nicht unbedingt die bessere Malerin, darüber war sich Anna im Klaren, aber sie besaß eine Freiheit und eine Lockerheit, um die Chenxi sie ganz offensichtlich beneidete. Einmal wurde er erstaunt Zeuge, als sie in einer experimentellen Stimmung das schon übermäßig lange Kinn eines alten, in der Sonne dösenden Mannes noch zusätzlich verlängerte. Für sich genommen, hätte diese Übertreibung lächerlich gewirkt, aber bei Betrachtung der gesamten Szenerie schien Annas Zeichnung die behäbige Gemütlichkeit des Schlafes besser darzustellen als Chenxis perfekt proportioniertes Porträt.
    Â»Du können das in Schule machen?«, wollte er wissen.
    Â»Chenxi, das ist Kunst!«, platzte es aus Anna hervor. »Du kannst machen, was du willst!«
    Chenxi nickte nachdenklich und runzelte die Stirn.
    Aus dem Augenwinkel sah Anna, dass Chenxi sie betrachtete. Sie legte ihren Stift weg. »Weißt du, was ich denke?«, sagte sie mit einem neuen Gefühl der Selbstsicherheit. »Ich denke, dass ein Künstler die Aufgabe hat, dem Betrachter eine andere Welt zu zeigen. Nein, keine andere Welt«, korrigierte sie sich selbst und entwickelte noch im Sprechen ihre Theorie weiter. »Es ist dieselbe Welt, aber aus einem anderen Blickwinkel.«
    Chenxi skizzierte eifrig die Landschaft, aber Anna merkte, dass er ihr zuhörte. Sie fuhr fort: »Es ist die Aufgabe eines Künstlers, und ich spreche auch von Schriftstellern und Musikern, die schmaleren Wege zu betreten, die von der Hauptstraße abzweigen. Künstler müssen diese Wege beschreiten und mitbringen, was sie dort finden, um es den Menschen zu zeigen, die niemals wagen würden, diese Wege zu gehen. Oder vielleicht niemals die Möglichkeit haben.«
    Anna zog ein neues Blatt Papier hervor und strich mit der Hand darüber. Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete die Spitze ihres Stifts. »Weißt du, wenn ich ein Bild malen würde, das etwas im Leben eines einzigen Menschen verändert, ihn so tief berührt, dass er etwas auf eine völlig andere Art und Weise betrachtet – selbst wenn es nur ein einziger Mensch wäre –, dann hätte ich das Gefühl, etwas erreicht zu haben. Mein Vater versteht das nicht. Für ihn zählt nur das Geldverdienen.«
    Â»Du können so denken, weil du frei bist«, murmelte Chenxi.
    Â»Was hast du gesagt?«
    Aber Chenxi stand ohne ein weiteres Wort auf und ging ein Stück weg, um ein anderes Motiv zu zeichnen.

    Eines Nachmittags waren sie auf einem Feld, als der Wind auffrischte und die Luft kühl wurde. Chenxi wollte Anna nach Hause bringen, doch sie bestand darauf, dass sie blieben. Nichts sollte die Zeit, die sie allein mit ihm verbringen konnte, verkürzen.
    Es wäre besser gewesen, wenn sie auf Chenxi gehört hätte, denn als sie wieder im Haus seiner Tante waren, fing Anna an zu niesen und zu zittern. Chenxis Tante erbleichte, steckte Anna umgehend ins Bett und brachte ihr eine Schale dampfender Suppe, gekocht aus

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