Shanghai Love Story
Enttäuschung, als Dai Laoshi mit einem weiteren Stapel Zeitungspapier auftauchte. Sie stöhnte und schob die Unterlippe vor wie ein schmollendes Kind. Dai Laoshi hob die Augenbrauen.
»Kann ich nicht das Gleiche machen wie sie?«, jammerte sie und deutete auf die anderen Studenten, die gebeugt dasaÃen und Seide bemalten.
Dai Laoshi zuckte mit den Schultern. Er schaute zu Lao Li, der ebenfalls mit den Achseln zuckte.
Anna klopfte sich auf die Brust und deutete noch einmal auf die anderen Studenten. Sie imitierte sie und beugte den Kopf über ein unsichtbares Stück Seide.
Disco Ding Yue kicherte. Lao Li murmelte Dai Laoshi etwas zu, der sich über das Kinn strich. Nervös murmelte er etwas zurück und ging dann zu seiner Aktentasche und zog einen Stapel Bilder hervor. Dai Laoshi blätterte sie durch und brachte eins zu Anna. Die anderen Studenten schauten schweigend zu.
Anna betrachtete den kleinen Druck eines Fächers. Auf den Fächer war eine kurvenreiche Landschaft gemalt, die im Nebel verschwand, und winzige Fischer, die ein Netz in das sich kräuselnde Wasser warfen.
» Xiè xiè ! Danke!«, sagte Anna triumphierend. Sie war stolz, dass sie sich ohne Chenxis Hilfe hatte verständlich machen können. Dann nahm sie die Stangentusche und die Pinsel zur Hand.
Mit hilfreichen Gesten und Anleitungen von Dai Laoshi und dank ihrer Beobachtung der anderen Studenten während der ersten Woche, ergründete Anna die Kunst der Seidenmalerei. Sie merkte, dass man dünne Schichten übereinanderlegen musste, eine über die andere. Mit feuchten Pinselspitzen verstrich man die Kanten. Es war ganz anders als die kühnen Pinselstriche der westlichen Malerei. In Bereichen, wo dunkle Farben verlangt waren, musste sie manchmal nicht weniger als zwanzig Schichten auftragen. Weià wurde immer auf die Rückseite der Seide gemalt, weil die Farbe viel deckender war als Schwarz. Dai Laoshi zeigte ihr, dass es ausreichte, wenn das Weià von der Rückseite aus durch die cremefarbene Seide schimmerte, um die gedämpfte Farbigkeit der Malerei der Ching-Dynastie zu erschaffen.
Chenxi war nicht da, um sie abzulenken, und sie war nicht in der Lage, sich mit den anderen Studenten zu unterhalten. Und so verlor sich Anna schon bald in ihrer Arbeit, kopierte die komplizierten Details der winzigen Berglandschaft. Die Mittagszeit verstrich, und sie arbeitete weiter. Völlig gefangen in ihrem Werk, lehnte sie Lao Lis Angebot, sie zum Nudelrestaurant zu begleiten, ab.
Am Ende des Nachmittags hatte sie das Bild fast fertiggestellt. Anna richtete sich auf und streckte sich. Die Sonne war schon zum Horizont hinabgesunken, und alle anderen Studenten waren bereits gegangen. Aber als sie ihr Tagewerk kritisch begutachtete, war sie zufrieden mit dem, was sie sah.
Einige ihrer Striche waren dick und wackelig, aber das hob sich womöglich angenehm von dem perfekten Kopierstil der anderen Studenten ab. Anna wusste, dass ihre Angewohnheit zur Eigenständigkeit die anderen irritierte. Sie musste kein Chinesisch verstehen, um zu wissen, dass sie über sie redeten. Es verunsicherte sie anscheinend, dass eine Ausländerin die Techniken der chinesischen Malerei so schnell begriff. Am Anfang des Tages hatten alle noch ein amüsiertes Grinsen auf den Lippen gehabt, als Anna ihre ersten zögerlichen Pinselstriche machte, aber nachdem sie vom Mittagessen zurückgekehrt waren und sahen, wie sich ihre Arbeit entwickelte, verschwand das Grinsen.
Anna verwirbelte mit ihren Pinseln das tuscheschwarze Wasser und überlegte, wie sie den Rest des Tages ohne Chenxi verbringen sollte. Sie hatte keine Lust, in das leere Apartment zurückzukehren, aber der Gedanke, allein in dem brütend heiÃen, überfüllten Shanghai herumzulaufen, erschien ihr auch nicht besonders verlockend.
Wen kannte sie sonst noch in Shanghai? Die einzige Person, die ihr einfiel, war der französische Student, mit dem sie vor dem Konsulat einen Joint geraucht hatte. Seine Universität lag am anderen Flussufer, und er hatte sie eingeladen. Sie kannte seinen Nachnamen nicht, aber sie war sicher, dass es nicht viele Studenten mit dem Namen Laurent dort gab. Sie empfand eine gewisse Abenteuerlust und beschloss, ihm einen Besuch abzustatten. Auch wenn sie ihn nicht sonderlich mochte, hatte er vielleicht ein paar nette Freunde. Es wäre bestimmt gut, sich einmal mit anderen ausländischen Studenten zu treffen,
Weitere Kostenlose Bücher