Shanghai Love Story
leutselig.
Er wollte Konversation machen, damit sie nicht auf die Idee käme, zu gehen. Sie fragte sich, warum sie überhaupt gekommen war. »Malen«, erwiderte sie.
»Danke. Das habe ich mir schon gedacht«, gab Laurent zurück. »Aber was malst du?«
»Ich habe heute von einem Gemälde der Ching-Dynastie eine Kopie auf Seide gemacht. Ich bin fast fertig.«
»Wirklich? Was für ein Motiv?«
Anna langweilte sich. Sie wusste, dass er kein Verständnis für ihre Arbeit hatte, dass er die Technik nicht verstehen würde, und auch nicht das Gefühl, das sie dabei hatte. Sie hatte es satt, ihre Leidenschaft Menschen zu erklären, die dafür kein Gespür besaÃen. Chenxi verstand sie. Er teilte ihre Leidenschaft.
»Eine Landschaft. Das ist eines der vier Motive, die man in der chinesischen Malerei darstellt. Landschaft, Menschen, Vögel und Blumen und die Kalligrafie«, ratterte sie herunter, wobei sie die Begriffe an ihren Fingern abzählte. »Kalligrafie sieht am einfachsten aus, ist aber das Motiv, das am meisten Beachtung findet, und auÃerdem das schwierigste. Chenxi ist der Einzige bei uns im Kurs, der die Kalligrafie beherrscht.«
»Ist es schwer, auf Seide zu malen?«
»Es geht. Man muss sich nur daran gewöhnen. Man braucht spezielle Pinsel. Kleine, manchmal nur mit einem Haar, und man muss wissen, welchen man für was braucht. Chenxi hat meine ausgewählt.«
»Tatsächlich?« Laurent stand auf, um die CD zu wechseln. Als er zur Matratze zurückkehrte, setzte er sich näher an Anna. Ihre Arme berührten sich. Anna stand auf, um sich Tee nachzuschenken.
Zwischen zwei Musikstücken senkte sich Schweigen über den Raum.
»Und?«, sagte sie, um die Stille mit Leben zu erfüllen. »Warum bist du in China?«
Sie versuchte, einen interessierten Eindruck zu machen, während Laurent seine Faszination für die Wirtschaftswissenschaften beschrieb und seinen Lebensplan, der darin bestand, die Karriere seines Vater zu übertreffen, indem er ein Handelsabkommen mit China zustande brachte. »Das ist eine sehr kniffelige Angelegenheit«, erklärte er. »Man muss das Vertrauen der Chinesen gewinnen. Wenn ich Mandarin spreche, habe ich anderen internationalen Interessenten gegenüber einen deutlichen Vorteil. Das ist der Grund, warum ich seit drei Jahren in diesem Drecksnest hocke. Es ist langwierig, aber es wird sich lohnen! Marco Polo sagte, China sei ein schlafender Drache, und wirtschaftlich fängt dieser Drache langsam an zu erwachen. Jetzt kommt es darauf an, in vorderster Reihe zu stehen. Ich habe schon eine Menge Guanxi geknüpft, seit ich hier bin.«
» Guanxi ?«
»Ja, du weiÃt schon ⦠Kontakte. Einflussreiche Kontakte. In China läuft alles über die Hintertüren. Man sagt hier, dass es nicht darauf ankommt, was man weiÃ, sondern wen man kennt. Ohne Guanxi kommt man hier nicht weit. Ich habe vor, eine Menge Geld zu verdienen, und China ist genau der richtige Platz dafür. Also, um deine Frage zu beantworten: Mein Plan ist es, reich zu werden!«, schloss er.
»Mein Vater würde dich lieben«, murmelte Anna.
»Das tut er bereits, meine SüÃe, das tut er bereits.« Laurent stützte sich auf die Ellbogen und grinste vor sich hin.
»Chenxi und ich überlegen, ob wir eines Tages ein Bild zusammen malen«, platzte Anna heraus, um das Thema zu wechseln. Sie hatte keine Ahnung, aus welcher Schublade in ihrem Kopf sie diese Lüge gerade gezogen hatte, aber nachdem sie einmal angefangen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. »Eigentlich war es meine Idee, und ich habe sie auch noch nicht wirklich mit ihm besprochen, aber ich bin mir sicher, er wird begeistert sein. Wir haben, was die Kunst angeht, dieselben Visionen â es ist ganz erstaunlich. Es ist, als ob wir uns durch die Kunst verständigen könnten, obwohl wir nicht dieselbe Sprache sprechen. Es ist so ein Zufall, dass wir im selben Kurs sind, weiÃt du? Ich meine, wir sind in ganz unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen, in zwei vollkommen verschiedenen Welten, und trotzdem sind wir jetzt hier: zwei Menschen, im Geiste vereint. Als ob es Schicksal ist oder so etwas â¦Â«
Anna brach ab. Sie hatte das ungute Gefühl, jemandem, den sie zu wenig kannte, zu viel von sich preisgegeben zu haben.
Laurent betrachtete seine Fingernägel.
Er schaute mit amüsierter
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