Shanghai Love Story
Lehrer als Feinde der Revolution denunzieren: Sie spielten verrückt. Für die Studenten war das die reine Anarchie. Plötzlich besaÃen sie ungeahnte Macht. Sie konnten ihren Lehrern Spotthüte aufsetzen und sie auf der StraÃe dem Gespött der Leute preisgeben. Sie konnten sie einsperren und sie verprügeln, und das alles mit dem Segen der Regierung.«
»Wow! Warum wurden die Leute verprügelt und eingesperrt?«
»Wegen aller möglichen Kleinigkeiten. Alles, was irgendwie so verdreht werden konnte, dass es sich gegen Mao und die kommunistischen Ideale richtete.«
»Auch, wenn man sich mit einem Ausländer einlie�«
»Besonders dann. Ausländische Firmen wurden angegriffen und geplündert. Genauso wie Kunstgalerien und Tempel. Alles, was als bürgerlich und elitär galt â und als antikommunistisch. Tausende Unschuldiger wurden gefoltert, eingesperrt, getötet oder in den Selbstmord getrieben. Familien wurden auseinandergerissen. Studenten wurden zur Feldarbeit aufs Land geschickt, und alle Schulen und Universitäten wurden geschlossen. Das ganze Land kam zum Erliegen. In den Siebzigerjahren lagen Chinas Wirtschaft und die soziale Ordnung in Trümmern. Aber Mao war so mächtig, dass erst nach seinem Tod 1976 das Volk wieder die Kontrolle über die Lage bekam. Als er starb, wurde die Viererbande â¦Â â über die weiÃt du doch Bescheid, oder?«
»Ich weià nicht mehr genau, wer das war â¦Â«
»Was lernt ihr denn heutzutage in der Schule? Das waren die Anführer der Kulturrevolution. Maos Frau gehörte auch dazu. Nach Maos Tod wurden sie verhaftet, und das Land kehrte allmählich wieder zur Normalität zurück. Aber es ist erheblicher Schaden entstanden. Kannst du dir das vorstellen? Die Leute haben unglaubliche emotionale Narben davongetragen. Das chinesische Volk betrachtet diese Zeit als die schlimmste der jüngeren Geschichte.«
»Das kann ich mir vorstellen«, seufzte Anna. »Denk dir: Von den eigenen Schülern denunziert zu werden!«
»Es betraf ja nicht nur Lehrer. Alle haben mitgemacht. Ãberall wurden Leute denunziert und angegriffen. Sogar von ihren eigenen Familien!«
»Kannst du dir vorstellen, dass eine Frau damals ihren eigenen Ehemann angezeigt hat, nur weil sie ihn verdächtigte, eine Affäre mit einer Ausländerin zu haben?«
»Natürlich. Viele Menschen haben die Kulturrevolution für ihre eigenen Zwecke benutzt. Ehemänner, Frauen, Kinder, Eltern ⦠es geriet völlig auÃer Kontrolle. Ãbrigens finde ich es gut, dass du dich für die chinesische Geschichte interessierst, Liebes ⦠Riech mal an dieser SoÃe, duftet sie nicht ganz fantastisch? Soll ich eine Flasche Wein aufmachen?«
»Wenn du möchtest, Dad«, sagte Anna und setzte sich an den Tisch. Gedanken an Chenxi und seine Familie schwirrten durch ihren Kopf.
Mr White holte eine Flasche aus dem Schrank. Ein australischer Rotwein. Als der Wein glucksend in ihr Glas lief, konnte Anna den australischen Busch riechen.
23. April 1989
Tag für Tag setze ich häppchenweise Informationen über Chenxi zusammen, die mir helfen, ihn zu verstehen. Wenn ich mehr über seine Familie und seine Vergangenheit erfahre, haben wir vielleicht eine Zukunft. Jetzt, da ich weiÃ, was mit seinem Vater passiert ist, kann ich begreifen, wie er über Ausländer denkt. Aber ich bin nicht nur eine Ausländerin! Ich kann mehr für ihn sein als das. Ich will alles über ihn wissen, und ich will, dass er keinen Grund zur Angst hat ⦠Wenn ich ihm nur begreiflich machen könnte, dass wir füreinander bestimmt sind.
»Bitte«, sagte Anna. »Nicht noch eine Woche lang Bambus!«
Es war Montagmorgen und Anna war froh, wieder in der Akademie zu sein. Auch wenn Chenxi noch nicht aufgetaucht war â die anderen Studenten freuten sich, sie zu sehen. Lao Li entwickelte einen Beschützerinstinkt und achtete darauf, ob sie etwas brauchte, und Disco Ding Yue warf ihr verstohlene Blicke zu und grinste sie kindisch an. Anna war verblüfft, wie schnell ihr diese Gesichter vertraut geworden waren. Sie schämte sich, dass sie â wie so viele Ausländer â bei ihrer Ankunft in Shanghai gedacht hatte, alle Chinesen sähen gleich aus.
Ihre Freude darüber, dass sie anscheinend ein anerkanntes Mitglied der Gruppe geworden war, verwandelte sich in
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