Shanghai Love Story
Dann wandten auch sie sich ihren Tischen zu und fingen an zu arbeiten. Irgendwann am Vormittag tauchte auch Dai Laoshi auf und drehte seine Runden im Zimmer. Zufrieden, dass alle Studenten fleiÃig bei der Arbeit waren, ging er, um mit den anderen Lehrern Tee zu trinken und Zigaretten zu rauchen. Chenxi lieà sich nicht blicken. Anna war nicht böse deswegen, weil sie noch immer nicht wusste, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte.
Sie legte gerade letzte Hand an die zerklüfteten Berggipfel, als wie durch eine innere Uhr aufgeschreckt die Studenten ihre Stühle zurückschoben und aufstanden. Lachend und schreiend rannten sie zum Mittagessen hinaus. Lao Li blieb zurück. Anna schaute zu ihm hoch und lächelte. »Wollen wir etwas essen gehen?«
Lao Li starrte sie an.
Sie tat so, als hielte sie eine Schüssel vor den Mund und schaufele Essen in sich hinein. Lao Li lachte und sagte: » Hao! Hao! «
Dank der Aiyi wusste sie, was das hieÃ: Gut!
Im Nudelrestaurant trafen sie Laurent. Er war gerade mit dem Essen fertig und zündete sich an einem der Tische drauÃen vor der Tür eine Zigarette an. Er lächelte Anna zu und bat sie an seinen Tisch. Die Suppe hatte sein Kinn ganz fettig gemacht. Er wischte sich das Kinn mit dem Handrücken ab, und Anna fragte sich, ob er ihren Blick wohl bemerkt hatte. Sie hatte es sich in China angewöhnt, andere Leute anzustarren â eine Angewohnheit, die sie in Australien schnell wieder loswerden musste.
»Wie gehtâs dir?«, fragte er Anna, während er gleichzeitig über ihre Schulter zu Lao Li schaute.
»Das ist Lao Li«, sagte Anna.
Laurent sprach Lao Li auf Chinesisch an, und dann, sehr zu Annas Missfallen, zog sich Lao Li einen Stuhl herbei und die beiden Männer schwätzten miteinander wie alte Freunde.
Anna setzte sich ebenfalls und hielt mit einem Blick auf den Besitzer des Restaurants einen Finger in die Höhe, so wie sie bisher immer eine Schüssel Nudelsuppe bestellt hatte. Aber Laurent lachte und gab die Bestellung in Chinesisch auf. Obwohl sie seine Selbstgefälligkeit nicht mochte, so verabscheute sie noch mehr die Tatsache, dass sie nicht Chinesisch sprechen konnte.
»Lao Li sagt, er sei ein Kommilitone von dir«, sagte Laurent, als man ihnen die Nudelsuppe brachte. Er hatte sich selbst eine zweite Schüssel bestellt, um Lao Li und Anna Gesellschaft zu leisten, und wirbelte nun die Essstäbchen geschickt in der Masse herum und schlürfte die Nudeln dann in den Mund. Lao Li trank Suppe aus seiner Schüssel.
»Mmm«, antwortete Anna, ohne aufzusehen. Die Suppe brannte in ihrem Mund. Sie gab sich den Anschein, als konzentriere sie sich voll und ganz auf ihre Essstäbchen.
»Ich habe ihn gerade nach Chenxi gefragt, weiÃt du, um mal in deinem Namen ⦠vorzufühlen«, fügte Laurent hinzu und beobachtete über den Rand der Schüssel hinweg Annas Reaktion.
»Laurent!«, keuchte Anna auf. Sie warf Lao Li einen Blick zu, ob er verstanden hatte, worum es ging. Lao Li schaufelte sich Nudeln in den Mund. Seine Brillengläser waren von dem Dampf ganz beschlagen.
»Lao Li sagt, dass Chenxi ständig Ãrger hat. Er meint, es liege ihm im Blut â sein Vater war genauso. AuÃer, dass sein Vater deswegen umgebracht wurde. Jeder weià das.«
»Sei ruhig!« Anna schaute wieder zu Lao Li, aber gleichzeitig gierte sie nach mehr Informationen.
Laurent lieà sich Zeit und kaute erst einmal genüsslich auf den Nudeln.
Er schluckte und fuhr fort: »Lao Li meint, dass Chenxi bei jedermann auf der schwarzen Liste steht. Er ist ein Unruhestifter. Eine falsche Bewegung, und die Behörden schnappen ihn sich. Er hat mehr als einen Grund, um die Gelegenheit für ein Visum beim Schopf zu packen, meinst du nicht auch?« Laurent lachte.
»Ich gehe zurück zur Akademie«, sagte Anna und stand auf. Sie lieà die noch halb volle Schüssel Nudelsuppe stehen. Sie hatte genug gehört.
»Nein, ganz im Ernst«, sagte Laurent und packte ihren Arm. »Vielleicht irre ich mich, was das Visum angeht. Aber nach dem, was Lao Li sagt, hat Chenxi bereits mehr als genug Ãrger. Halte dich von ihm fern. Ansonsten machst du es vielleicht noch schlimmer für ihn. Sie warten doch nur auf einen Vorwand â¦Â«
»Sie, sie, sie!«, schrie Anna und stieà seinen Arm weg. »Kümmere dich gefälligst um deine eigenen
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