Shanghai Love Story
Miene auf. »Du weiÃt doch, dass sich Chenxi nur deshalb an dich hängt, damit er einen australischen Pass bekommt, oder? Alle chinesischen Studenten wollen China verlassen. Ins Ausland gehen. Geld verdienen. Hier haben sie keine Zukunft. Glaubst du, er sei an dir interessiert? Tut mir leid, dass ich dir deine Illusionen rauben muss, SüÃe, aber du bedeutest für ihn nur die Fahrkarte in die Freiheit. Dein Chenxi mag ja noch so toll sein, aber er ist auch nur ein Chinese. Sie sind alle gleich.«
Anna trank ihren Tee. In ihrem Inneren öffnete sich ein gähnender Abgrund und der Tee rollte wie ein glühend heiÃes Stück Kohle hinein. Sie konnte kaum noch atmen.
Während sie in der Abenddämmerung durch Shanghai nach Hause fuhr, dachte Anna über das ziemlich unerfreuliche Gespräch mit Laurent nach.
Er schien eine Menge über China zu wissen, und einiges davon kam ihr einfach unglaublich vor. Besonders seine Behauptung über Chenxi ging ihr nicht aus dem Kopf.
Anna konnte es nicht akzeptieren; die Vorstellung war zu grausam. Aber hatte ihr Vater gleich am Anfang nicht etwas Ãhnliches gesagt? War das der Inhalt seiner Warnung?
Je mehr sie versuchte, nicht über die Möglichkeit nachzudenken, dass Chenxi sie nur benutzte, desto wahrscheinlicher wurde sie. Sie hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass seine Höflichkeit gekünstelt war, sogar während der Woche, die sie in Shendong bei seiner Familie verbracht hatten.
In den Wolken über ihr rumpelte es, und die Luft wurde feucht und klebrig, aber Annas Gesicht war nass, noch bevor es anfing zu regnen.
25. April 1989
Ach Chenxi, ist das alles, was ich dir bedeute? Eine Fahrkarte raus aus China? Eine Quelle für Devisen? Bist du nur aus Pflichtgefühl der Akademie gegenüber mit mir zusammen? Ich komme mir so dämlich vor. Das Schlimmste aber, die endgültige Demütigung ist, dass ich meine Gefühle für dich so offen vor dir ausgebreitet habe. Du hast dich nicht einmal anstrengen müssen, um mich für dich zu gewinnen; ich war vom ersten Augenblick an von dir gefangen. Wie ein hilfloses Insekt, das blind im Licht herumflattert â¦
Kapitel 17
Am nächsten Tag regnete es ohne Unterlass, und Anna fand nicht den Mut, in die Akademie zu gehen. Stattdessen fuhr sie mit dem Taxi ins Konsulat und lieh sich ein halbes Dutzend amerikanischer Filme aus, schmalzige Liebesgeschichten, bei denen sie weinen musste. Sie verbrachte sowohl diesen als auch den nächsten Tag mit ihrem Morgenmantel bekleidet im grauen Licht des Apartments, legte die FüÃe hoch und schaute sich die Filme an. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Shanghai schrieb sie nicht in ihr Tagebuch. In einem Anflug von Selbstmitleid überlegte sie, ob sie das Buch verbrennen sollte, das für sie zu einem einzigen, langen Liebesbrief an Chenxi geworden war. Aber sie brachte es nicht über sich und warf das Buch einfach nur in die Zimmerecke.
Als die Aiyi kam, setzte sie sich zu Anna, und die beiden schauten sich Casablanca an. Anna versuchte, die Geschichte, so gut es ging, zu erklären. Die Aiyi brachte Anna ein paar Worte Chinesisch bei und nahm ihr das Versprechen ab, irgendwann einmal zu ihr zu kommen und mit ihr zu essen. Nachdem sie die junge Frau zur Tür gebracht hatte, stellte Anna fest, dass die Aiyi über den Film ihre Arbeit ganz vergessen hatte. Anna spülte selbst das Geschirr ab.
Dann, am Ende des dritten, von Elend, Kummer und Selbstmitleid erfüllten Tages, brachte die Aiyi einen Brief von Annas Mutter. Anna betrachtete den zerknüllten Umschlag. Der obere Teil war fast völlig weggerissen. Ihr Vater hatte sie zwar gewarnt, dass die Post in China unzuverlässig war, aber dieser Brief war eindeutig geöffnet worden. Sie fragte sich, wer um alles in der Welt ihre Briefe lesen wollte. Wer hatte ein Interesse an dem Leben eines 18-jährigen Mädchens?
Sie glättete das mit Blumenmustern geschmückte Blatt Papier und lächelte beim Anblick der vertrauten Handschrift. Sie überlegte, ob sie ihre Mutter anrufen und ihr von Chenxi erzählen sollte, aber sie wusste, dass sich das Gespräch, mit dem sie ihre eigenen Probleme loswerden wollte, schnell nur um diejenigen ihrer Mutter drehen würde. Sie fühlte, dass sie im Augenblick nicht die Kraft hatte, sich mit der Einsamkeit ihrer Mutter zu beschäftigen. Es war besser, nicht anzurufen. Anna holte tief Atem.
17.
Weitere Kostenlose Bücher