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Shanghai Love Story

Shanghai Love Story

Titel: Shanghai Love Story Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Rippin
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April 1989
    Meine liebste Anna,
    ich vermute, es geht dir gut, weil ich noch nichts von dir gehört habe. Ich habe letzte Woche angerufen, aber du warst unterwegs und dein Vater erklärte mir, dass Briefe von China aus lange unterwegs sind. Wahrscheinlich haben wir deshalb noch keine Post von dir bekommen. Du hast mir ja gesagt, dass du ganz oft schreiben und erzählen würdest, was du erlebst. Wir vermissen dich!
    Hat dir der Ausflug mit deinem Kurs Spaß gemacht? Was für ein Abenteuer! Ich weiß nicht, ob ich den Mut hätte, ganz allein durch China zu reisen. Wo hast du gewohnt?
    Kommst du mit deinem Vater zurecht? Er klang angespannt am Telefon. Verbringt ihr viel Zeit zusammen? Vater und Tochter? Ich hoffe es. Er erzählte mir, dass dir dein Unterricht sehr gut gefällt. Er hält nicht viel von der Malerei – das gilt eigentlich für die Kunst im Allgemeinen –, aber lass dir von ihm bloß nichts einreden. Du weißt ja, dass ich meine Schauspielkarriere aufgeben musste, als ich ihn geheiratet habe. Diesen Schritt bereue ich bis heute. Aus mir hätte etwas werden können. Jetzt bin ich nur das, was übrig geblieben ist.
    Vergiss nicht, Liebling, du hast wirklich Talent. Ich bin sicher, dass du deinen Vater am Ende überzeugen wirst, wenn du dein Ziel mit ganzem Herzen verfolgst …
    Und da erinnerte sich Anna an den eigentlichen Grund für ihren Aufenthalt in China. Sie würde ihre Kunst nicht wegen eines Mannes aufgeben und zu einer leeren Hülle verkümmern, wie ihre Mutter! Sie steckte die Pinsel in ihren Rucksack und stellte den Wecker für den nächsten Morgen.

    Als ob das Wetter ihren Entschluss gutheißen würde, klarte es über Nacht auf. Obwohl die Sonne nicht schien, kam es Anna so vor, als ob das frühe Licht des Morgens leuchten würde, und die Straßen glitzerten regennass. Anna fuhr schnell, stellte sich Chenxi auf seinem Fahrrad vor und genoss das Zischen der Reifen auf dem nassen Asphalt; sie lächelte den alten Leuten zu, die ihre Vögel in Bambuskäfigen spazieren trugen.
    Sie überholte ein Straßenkehrfahrzeug und lachte über das Warnsignal, das »Happy Birthday« spielte. Die Melodie dröhnte und plärrte wie eine kaputte Hupe. Als das Fahrzeug langsamer fuhr und um die Ecke bog, klang es, als ob eine Schallplatte mit der falschen Geschwindigkeit abgespielt wurde.
    Anna sauste durch die leeren Marktstraßen, wo Frühaufsteher saßen und dampfend heißen Tofu aus ihren Schüsseln löffelten und andere schlafend unter Plastikplanen auf ihren Karren lagen. Gähnend rieben sie sich die Augen und starrten ihr verblüfft nach.
    Am Tor der Akademie sank ihr Herz, weil sie glaubte, viel zu früh zu kommen. Aber dann sah sie erleichtert den säuerlichen Torhüter mit einer Blechdose in der Hand näher kommen. Er warf Anna einen gereizten Blick zu, als er das Tor öffnete. Sie nickte zum Dank und schob ihr Fahrrad auf das stille Gelände.
    Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte Anna die Treppe hinauf und öffnete die Tür zum Klassenzimmer. Sie war entschlossen, ihre Seidenmalerei fertigzustellen. Das Letzte, was sie erwartet hatte, als sie vor ihren Schreibtisch trat, war, dass ihre Arbeit verschwunden war.
    Inmitten des menschenleeren Zimmers brüllte Anna vor Empörung und Wut auf, fegte mit den Armen die Papiere von den umliegenden Arbeitstischen. Das verschwundene Gemälde war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sie hatte ein paar entsetzliche Tage hinter sich, und jetzt gab sie Chenxi die Schuld. Für alles. Er war schuld, dass ihr Bild verschwunden war, und er war schuld an ihrem ganz persönlichen Unglück. Als sie ihn zu Genüge für alles verantwortlich gemacht hatte, was ihr Kummer bereitete, legte sie die Papiere wieder ordentlich auf die Tische, nahm ein neues Stück Seide und fing wieder von vorne an.
    Diesmal waren schon ihre ersten Pinselstriche mutig und akkurat. Die Linien waren intensiv und dicht, wo sie es sein sollten, und an anderen Stellen weich und ausdrucksstark. Die Farben vermischten sich gut und gingen ansatzlos ineinander über. Sie arbeitete wie eine Besessene.
    Einer nach dem anderen trafen ihre Kommilitonen ein. Neugierig umringten sie Anna, stellten sich neben sie und hielten den Atem an, während sie beobachteten, wie die Berge und die nebligen Täler von Annas Miniatur-Landschaft Gestalt annahmen.

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