Shanghai Love Story
das im Schein der Neonröhren feucht schimmerte. Ebenholzfarbene Strähnen auf den weiÃen SteinflieÃen, wie chinesische Schriftzeichen auf Reispapier.
Als die letzte Haarsträhne zu Boden fiel, schrie jemand auf, wie unter groÃen Schmerzen. Chenxi schaute auf. Seine Augen waren wild, und für den Bruchteil einer Sekunde trafen sie auf Annas. Ehe sie wusste, was geschah, sprang er auf, jagte aus dem Kreis und wurde von der Menge verschluckt. Als sie zurückschaute, war auch Alter Wolf verschwunden.
Anna kämpfte sich durch die Masse aus Körpern zur Treppe, in der Hoffnung, dort Chenxi zu finden. Als sie die Stufen hinabrannte, hörte sie dicht hinter sich Schritte, die wie der Widerhall ihrer eigenen klangen. Im Foyer holte Laurent sie ein und packte sie am Arm.
»Lass los! Lass los!«, knurrte sie und entwand sich seinem Griff.
»Nein, du lässt los!«, zischte Laurent sie an. »Anna. Du musst ihn loslassen.«
Lao Li und Laurent schoben ihre Fahrräder Seite an Seite über die Huai Hai Lu. Anna blieb ein Stück hinter ihnen. Die beiden Männer hatten eine Zeit lang mit ernsten Gesichtern miteinander geredet, aber jetzt stellte sich Lao Li auf die Pedale und winkte beiden zu, während er in der Menge verschwand.
Anna schloss zu Laurent auf, begierig auf Neuigkeiten. »Da hat er also die ganze Woche lang gesteckt«, sagte sie.
»Vermutlich.« Laurent blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Ungeduldig wartete Anna, dass er weitersprechen würde. Er stieà eine Rauchwolke aus. »Diese Ausstellung war das Werk einer Gruppe von Künstlern, die sich selbst die Roten Wölfe nennen. Lao Li ist einer von ihnen, und Chenxi ist der Anführer. Die Ausstellung hat eine Menge Organisation erfordert, selbst wenn sie nur einen Tag lang zu sehen ist. Also ja, vermutlich war er die ganze Woche damit beschäftigt.«
»Warum nur einen Tag?«
Laurent schob sein Rad vorwärts und Anna beeilte sich, um mitzukommen. »Weil sie extrem umstritten ist. Ich weià nicht, ob du Gelegenheit hattest, dir die Arbeiten anzuschauen, aber einige von ihnen waren sehr ⦠ähm, wie soll ich es sagen? Politisch. Und das ist noch untertrieben. Hast du das groÃe Gemälde gesehen â eine chinesische Freiheitsstatue mit einem Knebel? Das war Lao Lis Arbeit. Auch andere Studenten der Akademie hatten Bilder beigesteuert. In allen ging es um Redefreiheit und Demokratie in China. Chenxis Kopfrasur war der Höhepunkt. Du konntest die Schriftzeichen vor ihm auf dem Boden vermutlich nicht lesen, aber da stand: âºIch lasse mir im Namen der Demokratie den Kopf scheren.â¹ Diese Künstler hoffen auf die ausländische Presse.
In Beijing richten Studenten Protestmärsche auf dem Platz des Himmlischen Friedens aus. Chenxi und Alter Wolf haben sich so schnell aus dem Staub gemacht, weil jemand rief, die Polizei sei unterwegs. Man kriegt enorme Schwierigkeiten, wenn man so etwas hier in China veranstaltet. Besonders, wenn ausländische Journalisten beteiligt sind. Ich habâs dir ja gesagt, Anna: Chenxi bedeutet nichts als Ãrger. Du solltest dich von ihm fernhalten.«
Anna starrte Laurent an. »Warum warst du dort? Was geht dich Chenxi an?«
»Gar nichts. Ich habe Lao Li im Nudelrestaurant getroffen. Er hat mir davon erzählt. Chenxi interessiert mich nicht, Anna. Ich bin nur gekommen, weil ich dachte, dass du vielleicht auch da bist. Ich wollte dich warnen.«
»Hat dich mein Dad dazu angestiftet?«, wollte Anna wissen. »Geht es darum?«
»Nein! Ich weiÃ, dass du nicht viel von mir hältst, aber ich versuche wirklich, auf dich aufzupassen. Es gibt eine Menge Dinge in China, die du nicht verstehst.« Er verstummte und schaute ihr in die Augen. »Anna â¦Â«
»Ich kann auf mich selbst aufpassen«, schnitt Anna ihm das Wort ab und schob ihr Rad an. Sie wollte weder sich selbst noch Laurent der Peinlichkeit ausgesetzt sehen, die einer Liebeserklärung seinerseits unweigerlich folgen würde. Ihre Wangen fingen an, unter Laurents intensivem Blick zu brennen, und sie schaute sich um, ob irgendetwas sie inspirieren konnte, das Thema zu wechseln. Sie gingen eine hohe Backsteinmauer entlang. Anna schaute in eine lange Glasvitrine, die über die Breite der Mauer verlief. Hinter dem staubigen Glas hingen Reihe um Reihe SchwarzweiÃfotos. Fotos von Gesichtern. Es waren Verbrecherfotos von
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