Shanghai Love Story
zu erledigen. Noch ehe sie ihren Entschluss bereuen konnte, stellte Mr White den Direktor der Akademie vor vollendete Tatsachen. Der zeigte sich enttäuscht, hatte er doch auf ein längeres Verweilen Annas gehofft. Ihre überhöhten Schulgebühren hatten ihm schon einen Farbfernseher eingebracht.
»Sie nicht mögen Akademie? Chenxi nicht guter Ãbersetzer?«
Während Mr White ihm zum Trost einen Scheck ausschrieb, der die restlichen Gebühren abdeckte, ging Anna in ihr Klassenzimmer, um ihre »Vier Schätze« zu holen und um mit Chenxi zu sprechen.
Zu ihrer grenzenlosen Enttäuschung war er nicht da. Voll Verlangen blickte Anna zu seinem Arbeitstisch, als ob sie ihn nur mit ihrer Willenskraft herbeizaubern könnte. Während sie ihre Pinsel in die Strohmatte einrollte, versuchte sie, Lao Lis Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, um ihn zu fragen, wo Chenxi war. Merkwürdigerweise schaute keiner der Studenten zu ihr hin. Niemand hatte sie eines Blickes gewürdigt, als sie hereingekommen war.
»Psst! Psst! Lao Li!«, flüsterte sie.
Der Lehrer beobachtete sie. Lao Li warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Er schüttelte den Kopf und flehte sie mit den Augen an, ihn nicht anzusprechen.
Anna wickelte den Reibstein in Zeitungspapier und legte ihn in ihren Rucksack. Sie wollte Zeit gewinnen. Vom Korridor aus erklang die dröhnende Stimme ihres Vaters und die winselnde der Sekretärin. Beider Köpfe tauchten im Türrahmen auf.
»Komm, Anna«, sagte Mr White brüsk. »Das Taxi wartet schon.«
Anna schwang ihren Rucksack über die Schulter und ging auf ihren Vater zu. An der Tür warf sie noch einmal einen Blick auf Lao Li. Er machte eine hastige Bewegung, als würde er Nudeln essen, und senkte dann schnell wieder den Kopf. Voller Erleichterung wandte sie sich um und ging zur Tür hinaus.
Anna und ihr Vater überquerten im Taxi den Fluss Suzhou und fuhren in Richtung der Universität, wo sie Chinesisch studieren würde. Als sie ihr Fenster hochkurbelte, schaute Anna hinunter auf die Hausboote, die unter der Brücke klebten wie rauer Schorf auf einer Wunde. Ein ruÃverschmiertes Kind schaute zum Taxi empor, ehe es das schleimige Flussufer entlangstakste.
Anna träumte von der Zeit, die vor ihr lag, wie sie über diese Brücke zu Chenxi zurückkehren würde, wie sie genug Mandarin lernen würde, um unabhängig zu werden. Laurent, auf den sie sich im Augenblick als Führer und Ãbersetzer stützen musste, wollte sie so schnell wie möglich loswerden. Er war bereits jetzt mehr an ihr interessiert, als gut für sie war, aber noch brauchte sie ihn. Sie redete sich ein, dass er nur deshalb ein Auge auf sie geworfen hatte, weil ihr Vater ihm in geschäftlicher Hinsicht nützlich sein konnte, und Mr White hatte einen Narren an Laurent gefressen, weil er â wie er glaubte â Anna zur Vernunft gebracht hatte. Also war es ein Abkommen, mit dem jeder zufrieden sein konnte, nicht wahr? Anna umklammerte ihren Rucksack und beschwor Chenxis Bild herauf.
Nachdem sie die Formulare ausgefüllt hatten und Mr White die Kaution hinterlegt hatte, zeigte der Direktor Anna den Weg in den Anfängerkurs und lud sie ein, am nächsten Tag an dem Samstagsunterricht teilzunehmen. Er erklärte, dass sie schon ein paar Wochen verpasst hatte und ziemlich viel nachholen musste. Mr White schaute besorgt drein, und Anna versprach ihnen beiden, dass sie hart arbeiten würde. Und das entsprach der Wahrheit. Sie hatte nicht die Absicht, Mandarin zu lernen, um in China Geschäfte zu machen, sondern Laurents Umklammerung zu entkommen und einen Zugang zu Chenxi zu finden.
Als sie in den Klassenraum spähte, war Anna überrascht, wie viele Afrikaner, Japaner und Inder unter den Studenten waren. Sie hatte während ihres Aufenthalts in China vergessen, dass es nicht nur weiÃe Ausländer gab. Der Direktor stellte Anna der Kursleiterin vor; dann gingen sie weiter.
»Werden Sie auf dem Campus wohnen?«, fragte der Direktor. »Oder bei Ihrem Vater?«
»Auf dem Campus.«
»Bei meinem Vater.«
Sie hatten gleichzeitig geantwortet.
Mr White schaute sie fragend an.
»Ich kann in deinem Apartment viel besser lernen, Dad«, erklärte Anna. »Laurent hat mir erzählt, dass hier auf dem Campus die Partys nie zu Ende gehen!« Anna gefiel die Vorstellung gar nicht, in demselben Gebäude zu wohnen
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