Shanghai Love Story
drehte sich alles. Der intensive Geruch in dem Restaurant war mit einem Mal zu viel für sie. Sie sprang auf und stürzte hinaus.
»Wir sehen uns auf dem Campus!«, rief ihr Laurent mit übertriebener Fröhlichkeit nach.
Oh, wie sie ihn verabscheute!
Anna fuhr schnell. Fest trat sie in die Pedale, bis ihre Muskeln brannten und ihr der Schweià von der Stirn floss. Innerlich schrie sie auf. Sie fuhr schneller, immer schneller, bis unvermittelt das Fahrrad unter ihr wegrutschte und sie über den Asphalt schlitterte. Die Hitze schoss ihr durch die Haut bis in die Knochen. Dann lag sie still. Das Dröhnen des Verkehrs drang wie ein Nebel zu ihr.
»Oh, wai guo ren !«, sagte eine sanfte Stimme. Anna schaute auf. In wenigen Sekunden hatte sich ein Kreis aus Menschen gebildet, vielleicht fünfzig. Alle starrten mit offenen Mündern auf das Blut und den Schmutz, der an Annas Knie klebte.
»Seht ihr?«, schrie Anna sie an, während salzige Tränen in der Schramme an ihrem Kinn brannten. »Auch Ausländer bluten!«
Kapitel 24
Anna war so steif und fühlte sich so zerschlagen, dass sie nicht einmal laufen konnte. Eine Woche lang lag sie im Bett und kämpfte sich durch die Ãbungen in Chinesisch, die ihre neue Lehrerin ihr geschickt hatte. Eine weitere Woche verging, aber sie weigerte sich, das Apartment zu verlassen. Die Wunden heilten, sie hatte keine gebrochenen Knochen, aber sie wagte es nicht, in den Spiegel zu schauen, weil sie die schorfigen Krusten nicht sehen wollte.
In der dritten Woche bildeten sich über den Wunden weiche, geriffelte rosa Narben. Auch die Blutergüsse schwächten sich ab, und ihr Spiegelbild zeigte nur noch leichte gelbe und gräuliche Schatten. Sie hätte wieder zur Universität gehen können, aber jetzt wurde sie krank. Ihr war übel. Am Morgen wachte sie mit einem knurrenden Magen auf, aber nachdem sie eine Schale Müsli gegessen hatte, kam ihr das Frühstück prompt wieder hoch. Anna redete sich ein, dass es nur eine Magenverstimmung war, vielleicht ein Virus, aber als ihre Brüste anfingen zu spannen und ihre Periode ausblieb, fing sie an, sich Sorgen zu machen. War es möglich, dass sie schwanger war? Sie verfluchte sich selbst, weil sie das Risiko eingegangen war, aber sie hatte gedacht, es wären erst ein paar Tage seit ihrer letzten Periode vergangen. Vielleicht hatte sie das Datum verwechselt.
Sie musste Gewissheit haben, aber in ihren blöden chinesischen Arbeitsbüchern stand nichts über Schwangerschaftstests oder Abtreibung. Sie hatte keine Ahnung, wo das nächste Krankenhaus war, geschweige denn, wie sie verstehen sollte, was man ihr dort sagen würde.
Etliche Male hatte sie in der Akademie angerufen und nach Chenxi gefragt, aber die Antworten, die sie bekam, waren ausweichend, und Lao Li wollte nicht ans Telefon kommen. Wenn sie nur mit Chenxi reden könnte! Das war keine Sache, die sie allein durchstehen wollte. Immerhin war er der Vater. Vater! Der Gedanke erfüllte sie mit Erschrecken und gleichzeitig mit Entzücken. Wollte er ein Vater sein? Wichtiger noch: Wollte sie eine Mutter sein? Mit achtzehn?
Sie dachte an die Worte des alten Wahrsagers vor dem Fuxing-Park. Sollte er recht behalten? War dies ihr Schicksal? Sie legte sich aufs Bett und stupste ihren Bauch an. Wuchs tatsächlich etwas in ihr heran? Die Möglichkeit ängstigte sie. Sie dachte darüber nach, ob sie eine Freundin in Australien anrufen sollte, aber ihr altes Leben schien unendlich weit weg zu sein, und um ehrlich zu sein, wollte sie nicht, dass jemand zu Hause davon erfuhr. Zwei Mädchen an ihrer Schule waren schwanger geworden â zwei, von denen sie wusste â, und obwohl sie sich für unterschiedliche Lösungen des Problems entschieden hatten, war ihr guter Ruf hinüber.
Sie wollte ihre Mutter nicht unnötig aufregen, bevor sie nicht selbst Gewissheit hatte. Und ihrem Vater konnte sie es schon gar nicht sagen. AuÃerdem war es immer noch möglich, dass sie sich umsonst Sorgen machte.
Es gab nur eine Person in Shanghai, die ihr helfen konnte. Sie nahm den Hörer ab und wählte die Nummer der Universität, wartete, bis man Laurent ans Telefon geholt hatte. Der Gedanke, ihn um Hilfe bitten zu müssen, verursachte ihr eine Gänsehaut, aber sie hatte keine andere Wahl. Und falls sie wirklich schwanger war, musste sie umgehend eine Entscheidung treffen.
»Du hast dir
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