Shannara I
Durin und Dayel gingen auf Katzenfüßen, lautlos und gewandt, mit der düsteren Umgebung schier verschmelzend. Wieder starrte Menion auf die Gnome, die ihre Götter riefen und zu den Bergen beteten, während sich ihre Leiber zum Dröhnen der Trommeln wanden.
Dann erreichten die vier das Ende ihrer Deckung. Balinor deutete nach vorn zu dem offenen Gelände zwischen ihnen und den dichten Anar-Wäldern auf der anderen Seite. Die Strecke war lang, und zwischen den Männern und dem Passübergang befand sich nichts als niedriges Buschwerk und von der Sonne ausgetrocknetes Gras. Unmittelbar unter ihnen lagerten die Gnome, die jeden sehen mußten, der versuchen wollte, die hell erleuchteten Hänge der Südseite zu überqueren. Dayel hatte recht gehabt; es wäre einem Selbstmord gleichgekommen, hier einen Durchbruch zu versuchen. Menion hob den Kopf und sah mit einem Blick, daß jeder Versuch, mit den beiden bewußtlosen Talbewohnern größere Höhe zu erreichen, durch eine Felswand zunichte gemacht wurde, die sich mehrere hundert Fuß in die Luft erhob und beinahe senkrecht aufragte. Er drehte den Kopf und starrte wieder auf die offene Stelle. Balinor winkte die anderen mit Gesten zu sich heran.
»Menion kann bis zum Rand vorgehen«, flüsterte er. »Wenn er sein Ziel ausgemacht hat und der Gnom getroffen ist, wird Höndel die ganze Wut und Erregung der Versammelten auf sich ziehen, hoch auf der anderen Seite des Passes. Er müßte schon an Ort und Stelle sein. Wenn die Gnome in seine Richtung stürzen, müssen wir uns beeilen. Schaut euch nicht um - lauft!«
Die anderen nickten, und alle Augen hingen an Menion, der den großen Bogen vom Rücken genommen hatte und die Spannung der Sehne prüfte. Er nahm einen langen, schwarzen Pfeil, vergewisserte sich, daß er gerade war, und zögerte kurz, während er noch einmal auf die vielen hundert Gnome hinunterblickte. Plötzlich schien ihm klarzuwerden, was man von ihm erwartete. Er sollte einen Mann töten, nicht im Kampf, nicht in einer Schlacht, sondern aus dem Hinterhalt, verstohlen, ohne daß der andere sich zu wehren vermochte. Er wußte instinktiv, daß er das nicht tun konnte, daß er nicht der erfahrene Kämpfer war wie Balinor, daß er nicht die kalte Entschlossenheit von Höndel besaß. Er war wild und manchmal auch tapfer, bereit, im offenen Kampf gegen jeden anzutreten, aber er konnte nicht aus einem Versteck heraus töten. Er wandte sich den anderen zu, und sie lasen es in seinen Augen.
»Ihr müßt es tun!« zischte Balinor mit funkelnden Augen.
Durin hatte das Gesicht halb abgewendet, aber Dayel starrte Menion mit großen Augen an.
»Ich kann einen Mann so nicht töten«, sagte Menion gepreßt. »Nicht einmal, um euch das Leben zu retten…«
Er verstummte, und Balinor starrte ihn unverwandt an.
»Ich kann tun, was nötig ist«, fuhr Menion fort, nachdem er noch einmal zu den Gnomen hinuntergeblickt hatte. »Ich kann es tun, aber auf andere Weise.«
Ohne sich näher zu erklären, schlich er zwischen den letzten Bäumen weiter und kauerte am Rand nieder. Seine Blicke glitten über die Gestalten der Gnome und blieben endlich an einem Häuptling auf der anderen Seite des Passes hängen. Der Gnom stand vor seinen Leuten, das runzlige, gelbe Gesicht erhoben, die kleinen Hände ausgestreckt, mit einer langen Schale glühender Kohle. Er stand regungslos da, das Gesicht zum Wolfsktaag gewendet. Menion zog einen zweiten Pfeil aus dem Köcher und legte ihn vor sich hin, dann schob er sich auf einem Knie hinter dem kleinen Baum hervor, an dem er Deckung gesucht hatte, legte den Pfeil in den Bogen und zielte. Die anderen warteten grimmig, mit angehaltenem Atem. Für den Bruchteil einer Sekunde schien alles gänzlich zum Stillstand zu kommen, dann wurde die Bogensehne losgelassen, sie schwirrte, und der Pfeil flog unsichtbar seinem Ziel entgegen. Beinahe mit derselben Bewegung legte Menion den zweiten Pfeil an die Sehne, zielte, schoß ihn blitzschnell ab und ließ sich hinter den Baum zurückfallen.
Es ging so schnell, daß keiner alles zu verfolgen vermochte; jeder sah nur Bruchstücke von dem, was der Schütze getan hatte und was unten geschah. Der erste Pfeil traf die Schale in den ausgestreckten Händen des Gnomen-Häuptlings, und sie zersprang in zahllose Stücke. Glühendrote Kohlen flogen funkenstiebend in die Luft. Im nächsten Augenblick, während der entgeisterte Gnom und seine verwirrten Anhänger erstarrten, bohrte sich der zweite Pfeil schmerzhaft in das
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