Shannara II
das, als er dich auswählte, um mich zu beschützen. Ich glaube, er wußte, wie wichtig deine Entschlossenheit für unser Überleben werden würde. Und ohne sie, Wil, wären wir längst tot.« Sie hielt einen Moment inne, und als sie weitersprach, war ihre Stimme sehr leise. »Du irrst dich, wenn du sagst, daß es mir nicht an Entschlossenheit fehlt. Ich habe sie nie in ausreichendem Maße besessen.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Du kennst mich nicht so gut, wie du glaubst, Wil.«
Er musterte forschend ihr Gesicht.
»Was meinst du damit?«
»Ich meine, daß es gewisse Dinge gibt…« Sie brach ab. »Ich meine, daß ich nicht so stark bin, wie ich gern sein würde - nicht so mutig, nicht einmal so zuverlässig wie du. Weißt du noch, Wil, als wir in Havenstead aufbrachen? Damals hast du nicht sonderlich viel von mir gehalten. Und ich habe auch nicht viel von dir gehalten.«
»Amberle, du hattest Angst. Das ist doch nicht -«
»O ja, da hast du recht, ich hatte große Angst«, unterbrach sie ihn rasch. »Ich habe immer noch Angst. Und gerade die Tatsache, daß ich Angst habe, ist die Ursache für alles, was geschehen ist.«
An der Zellentür brummte Eretria zornig vor sich hin, lehnte sich zurück und begutachtete aus zusammengekniffenen Augen das widerspenstige Schloß. Einmal sah sie kurz zu Wil hinüber, dann machte sie sich wieder an die Arbeit.
»Du willst mir doch etwas ganz Bestimmtes sagen, Amberle. Was ist es?« fragte Wil leise.
Amberle schüttelte langsam den Kopf.
»Ich bemühe mich, den Mut aufzubringen, dir das eine zu sagen, das ich dir bis jetzt einfach nicht sagen konnte.« Sie starrte in die öde Düsternis der Zelle. »Ich vermute, es drängt mich gerade jetzt, es dir zu sagen, weil ich nicht weiß, ob sich noch eine andere Gelegenheit überhaupt bieten wird.«
»Dann sag es mir doch«, ermunterte er sie.
Sie hob das kindliche Gesicht zu ihm auf.
»Ich habe Arborlon verlassen und meine Pflichten als Erwählte im Dienste des Ellcrys im Stich gelassen, weil ich mit der Zeit eine solche Angst vor dem Ellcrys bekam, daß ich es nicht mehr ertragen konnte, auch nur in seiner Nähe zu sein. Das klingt töricht, ich weiß, aber hör mich bitte bis zum Ende an. Ich habe dies nie jemandem erzählt. Ich glaube, meine Mutter hat es gemerkt und verstanden, aber sonst niemand. Ich kann das auch den anderen nicht zum Vorwurf machen. Ich hätte mich ja vielleicht erklären können, aber ich zog es vor, das nicht zu tun. Ich war einfach der Meinung, ich könnte mit niemandem darüber sprechen.«
Sie machte eine kurze Pause.
»Ich hatte einen schweren Stand, nachdem ich von dem Ellcrys erwählt worden war. Ich wußte natürlich um die Einzigartigkeit meiner Erwählung. Ich wußte, daß ich seit fünfhundert Jahren die erste Frau war, die der Baum erkoren hatte, die erste Frau seit den Tagen des Zweiten Krieges der Rassen. Ich nahm meine Erwählung einfach an, obwohl es viele gab, die sie in Frage stellten. Ganz offen. Doch ich war die Enkelin von Eventine Elessedil; so sonderbar fand ich es gar nicht, daß ich erwählt worden war. Und meine Familie - ganz besonders mein Großvater - war so stolz.
Aber ich entdeckte bald, daß meine Erwählung nicht nur im Hinblick darauf, daß ich eine Frau war, etwas Besonderes war. Vom ersten Tag meines Dienstes an nahm ich eine Ausnahmestellung unter meinen Miterwählten ein. Der Ellcrys, das war wohlbekannt, pflegte nur sehr selten zu jemandem zu sprechen. Es war praktisch noch nie vorgekommen, außer unter ganz besonderen Umständen natürlich, daß er nach dem Zeitpunkt ihrer Berufung mit den Erwählten gesprochen hatte. Mit mir aber sprach er vom ersten Tag an - nicht einmal oder zweimal, sondern jeden Tag; nicht flüchtig, nicht obenhin, sondern ausführlich und mit Absicht. Immer war ich allein; die anderen waren nie dabei. Er pflegte mir zu sagen, wann ich kommen sollte, und ich folgte dem Befehl natürlich. Ich fühlte mich tief geehrt; ich nahm eine Sonderstellung ein, ich lag ihm mehr am Herzen als jeder andere zuvor, und das machte mich sehr stolz.«
Sie schüttelte den Kopf bei der Erinnerung.
»Anfangs war es wunderbar. Der Ellcrys erzählte mir Dinge, die sonst niemand wußte, Geheimnisse über die Erde und das Leben auf ihr, die bei den Rassen seit Jahrhunderten in Vergessenheit geraten waren. Er erzählte mir von den Großen Kriegen, von den Rassenkriegen, von der Geburt der Vier Länder und ihrer Einwohner, von allem, was seit Beginn der
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