Shannara V
zurückgebracht werden. Stell dir vor, was sie empfinden werden. Alles wird sie ängstigen.«
»Vielleicht nicht«, wagte sie zu sagen.
Er schien sie nicht zu hören. »Wir werden alles verlieren, was uns lieb ist, wenn das geschieht. Die Magie hat uns unser ganzes Leben lang zur Verfügung gestanden. Sie reinigt die Luft, schützt uns vor dem Wetter, hält unsere Felder fruchtbar, nährt die Pflanzen und Tiere des Waldes und versorgt uns mit Wasser. Alles. Was wird, wenn diese Dinge verloren sind?«
Auf einmal erkannte sie die Wahrheit. Er hatte Angst. Er konnte sich ein Leben jenseits des Keels nicht vorstellen, er hatte keine Vorstellung von einer Welt ohne Dämonen, wo die Natur alles das herbeischaffte, wofür sich die Elfen jetzt der Magie bedienten.
»Gavilan, es wird alles gut werden«, sagte sie ruhig. »Alles, was dich jetzt erfreut, war auch schon vorher da. Die Magie versorgt euch nur mit dem, was ohnehin wieder da sein wird, wenn das Gleichgewicht der Natur wiederhergestellt ist. Ellenroh hat recht. Die Elfen werden nicht überleben, wenn sie auf Morrowindl bleiben. Früher oder später wird der Keel versagen. Und umgekehrt kann es sein, daß die Vier Länder nicht ohne die Elfen überleben können. Vielleicht ist das Schicksal der Rassen irgendwie miteinander verbunden, genau wie Ellenroh es vermutet. Vielleicht sah Allanon das, als er mich aussandte, damit ich euch finde.«
Seine Blicke trafen die ihren. Die Angst war fort, aber er war trotzdem immer noch angespannt und beunruhigt. »Ich verstehe die Magie, Wren. Tante Ell denkt, sie sei zu gefährlich und nicht vorhersagbar. Aber ich verstehe sie, und ich glaube, ich könnte eine Möglichkeit finden, sie zu beherrschen.«
»Kannst du mir nicht erzählen, warum sie sie fürchtet?« drängte Wren. »Was veranlaßt sie dazu, zu denken, sie sei gefährlich?«
Gavilan zögerte, und einen Moment lang schien er antworten zu wollen. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Wren. Ich kann es dir nicht sagen. Ich habe geschworen, es nicht zu tun. Du bist ein Elf, aber… Es ist besser, wenn du es niemals herausfindest. Er hob die Hände, als wolle er die Angelegenheit enttäuscht und ungeduldig beiseite schieben. Dann wechselte seine Stimmung abrupt, und er wirkte plötzlich heiter. »Frage mich etwas anderes, und ich werde antworten. Frage mich alles.«
Wren verschränkte ärgerlich die Arme. »Ich möchte dich nichts anderes fragen. Nur das möchte ich wissen.«
Die dunklen Augen tanzten. Er amüsierte sich. Er trat so nahe an sie heran, daß sie sich fast berührten. »Du bist Alleynes Kind, Wren. Ich gestehe es ein. Fest entschlossen bis zuletzt.«
»Dann erzähle es mir.«
»Du gibst nicht auf, nicht wahr?«
»Gavilan.«
»Du bist so sehr darauf aus, eine Antwort zu erhalten, daß du nicht einmal siehst, was direkt vor deinem Gesicht geschieht.«
Sie zögerte verwirrt.
»Sieh mich an«, sagte er.
Ihre Blicke trafen sich. Sie sahen einander schweigend an und maßen sich auf eine Art, die bloße Worte überstieg. Wren konnte die Wärme seines Atems spüren und sehen, wie seine Brust sich hob und senkte.
»Erzähle es mir«, wiederholte sie eigensinnig.
Sie spürte, wie seine Hände sich auf ihre Arme legten. Sein Griff war leicht, aber fest. Dann näherte sich sein Gesicht dem ihren, und er küßte sie.
»Nein«, flüsterte er mit einem schnellen, unsicheren Lächeln und verschwand in der Nacht.
Kapitel 46
Bis zum Mittag des folgenden Tages erfuhr jedermann in Arborlon von Ellenroh Elessedils Entscheidung, die Macht des Loden anzurufen, um die Elfen und ihre Heimatstadt ins Westland zurückzubringen. Die Königin hatte die Nachricht beim ersten Morgengrauen verbreiten lassen, indem sie ausgewählte Boten in jeden Winkel ihres bedrängten Königreiches sandte - Barsimmon Oridio zu den Offizieren und Soldaten des Heeres, Triss zu den Elfenjägern der Leibgarde, Eton Shart zu den restlichen Mitgliedern des Hohen Konzils und von dort zu den Angehörigen des Hofstaates, die in den Verwaltungsbüros der Regierung dienten, und Gavilan zum Marktbezirk, um die Führer des Handels und der Bauerngemeinschaften zu versammeln. Zu dieser Stunde war Wren längst aufgewacht. Sie hatte sich angezogen und gefrühstückt und war in die Stadt gegangen, in der von nichts anderem gesprochen wurde.
Sie fand die Reaktion der Elfen bemerkenswert. Es gab keine Panik, kein Gefühl der Verzweiflung und keine Drohungen oder Anklagen gegen die Königin wegen ihrer
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