Shannara VIII
Jahre war diese Gewissheit brüchiger geworden, und allmählich hatten sich Zweifel eingestellt. Deshalb war sie von Beks Geschichte so gefesselt gewesen, als sie sich in jener Nacht im Wald nach dem Angriff in den Ruinen zum ersten Mal getroffen hatten. Deshalb hatte sie ihn nicht getötet, was sie bei jedem anderen getan hätte. Seine Worte und sein Aussehen hatten sie stutzen lassen. Die Möglichkeit, er könnte die Wahrheit sagen und damit alles, was sie bislang geglaubt hatte, zur Lüge machen, beunruhigte sie zutiefst.
Das würde demnach bedeuten, dass sie ihn in Todesgefahr verlassen hatte, obwohl sie hätte zurückkehren und ihn retten sollen.
Ein solches Versäumnis hätte er ihr niemals vorgeworfen, allerdings beschuldigte sie sich dessen ja selbst. Sie hatte ihre Eltern und dann auch ihn nicht retten können. Aufgrund einiger Lügen hatte sie ihr Leben vergeudet und sich einer falschen Rachsucht hingegeben.
Dieser Gedankengang bestürzte ihn sehr, und im ersten Moment konnte er eine so einfache und so absurde Lösung nicht für möglich halten. Aber sie dachte einfach nicht so wie er oder andere. Durch die reinigende Magie des Schwertes von Shannara war sie wiedergeboren worden, durch ein Feuer getempert, das er sich kaum vorzustellen vermochte, durch so tief greifende und unerbittliche Tatsachen, die jede schwächere Persönlichkeit zerstört hätten. Sie hatte nur aufgrund dessen überlebt, was sie war, und sie hatte noch größere Schäden davongetragen.
Was sollte er nun tun?
Er hatte Angst, die falsche Fährte zu verfolgen, und falls das zutraf, hatte er keine Ahnung, was er sonst probieren könnte. Doch Angst konnte er im Augenblick nicht gebrauchen, für seine Schwäche hatte er keine Geduld. Er musste einfach den Versuch unternehmen, mit seinen neuen Einsichten ihren Schutzwall zu durchbrechen, um herauszufinden, ob er Recht hatte.
Dabei boten sich ihm zwei Möglichkeiten. Er konnte die Magie des Wunschliedes beschwören oder mit seiner normalen Stimme zu ihr sprechen. Er entschied sich für das Letztere, beugte sich zu ihr vor, brachte sein Gesicht vor das ihre, schlang ihr die Hände um den schlanken Hals und zerzauste ihr dickes dunkles Haar.
»Hör mir zu«, flüsterte er. »Grianne, hör dir an, was ich dir zu sagen habe. Du kannst mich verstehen. Du hörst jedes Wort. Ich habe dich lieb, Grianne. Ich habe dich immer lieb gehabt, sogar, als ich erfahren habe, wer du bist. Es ist nicht deine Schuld, was dir angetan wurde. Du kannst jetzt nach Hause kommen, zu mir. Dort bist du zu Hause - bei mir. Bei deinem Bruder Bek.«
Er wartete einen Moment lang und beobachtete ihre Augen. »Du hast mich vor dem Morgawr und den Mwellrets versteckt, Grianne, obwohl du nicht wusstest, wer sie waren. Damit hast du mir das Leben gerettet. Ich weiß, du wolltest zurückkommen und mich holen und Hilfe für unsere Eltern rufen. Doch das konntest du nicht. Du hast keine Möglichkeit gehabt, zurückzukehren, weil du nicht genug Zeit hattest, selbst dann, wenn der Morgawr dich nicht in die Falle gelockt hätte. Und trotzdem hast du mich gerettet. Weil du mich versteckt hast, so dass Truls Rohk mich finden und zu Walker bringen konnte, dadurch. Mein Leben habe ich allein dir zu verdanken.«
Er hielt inne. Hatte er einen Schauder bei ihr gespürt? »Grianne, ich verzeihe dir, dass du mich allein gelassen hast, dass du nicht zurückgekommen bist, dass du nicht erfahren hast, dass ich noch lebe. Ich verzeihe dir alles, denn du hast alles versucht, auch wenn du kein Glück hattest. Jetzt musst du dir ebenfalls verzeihen. Du darfst dich nicht mehr vor dem verstecken, was vor so vielen Jahren passiert ist. Vor dieser Wahrheit brauchst du nicht zurückzuschrecken. Im Gegenteil, du solltest dich ihr stellen. Ich brauche dich hier, und du bist so weit fort von mir. Wenn du dich verkriechst, lässt du mich wieder allein. Tu das nicht, Grianne. Geh nicht wieder fort. Komm zu mir zurück, das hast du mir versprochen.«
Plötzlich zitterte sie, doch ihr Blick blieb starr und leer wie ein nächtlicher See im Wald. Er hielt sie in den Armen und wartete ab, ob sie irgendwie reagierte. Rede einfach weiter, sagte er zu sich. So kannst du sie erreichen. Stattdessen begann er zu singen, beschwor die Magie des Wunschliedes, fast ohne es zu merken, und sang nun die Worte, die er zuvor nur gesprochen hatte. Er folgte damit einem Impuls, einem Instinkt, einer Reaktion auf sein Bedürfnis, eine Verbindung zu ihr
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