Shannara VIII
herzustellen. Er war ihr so nahe, stand so kurz vor dem Durchbruch. Er spürte die Risse in der Mauer, die sie um sich herum aufgerichtet hatte. Da war sie, genau dahinter, und verzweifelt versuchte sie, zu ihm zu gelangen.
Deshalb ging er zu der Sprache über, die sie beide am besten verstanden, der Sprache, die nur sie beide besaßen. Die Musik floss aus ihm heraus, mit seiner Magie verwoben, süß und sanft und voller Sehnsucht. Er gab sich ganz der Musik hin, verlor sich im Rhythmus, in ihrem Fluss, in ihrer Erhabenheit des Hier und Jetzt. So entfernte er sich von dem Ort, an dem er war, und Grianne nahm er mit sich, zurück zu der Zeit und zu einem Leben, welches er kaum gekannt hatte, welche sie vergessen hatte, zurück in eine Welt, die ihnen beiden verloren gegangen war. Er sang darüber, wie er sich diese Welt gewünscht hätte, während er ihr gleichzeitig mitteilte, dass er ihr verziehen habe, diese Welt und damit ihn verlassen und sich im Labyrinth von Heimtücke und Lüge und Hass und Frevel verloren zu haben, wo es keine Erlösung mehr gab. Er sang und wollte sie auf diese Weise heilen, damit sie in seinen Worten und seiner Musik den Balsam erkannte, den sie brauchte, um die harte Wahrheit über ihr Leben zu akzeptieren und um zu wissen, dass auch sie, gleichgültig, wie schlimm ihre Verbrechen waren, Vergebung erlangen würde.
Er hatte keine Ahnung, wie lange er sang, doch dachte er nicht mehr darüber nach, wo seine Absichten lagen und was notwendig war. Die Musik bot seinen verwirrten Gefühlen ein Ventil. Dann stellte sich die erhoffte Wirkung bei Grianne ein. Er bemerkte, wie die Schauder sich in Zittern verwandelten, wie ihr Kopf hochfuhr und ihre Augen ein Ziel suchten, wie sich aus ihrer Kehle ein Urlaut löste. Er spürte, wie die Mauer um sie herum zerbröckelte, wie ihre Welt sich veränderte.
Dann schloss sie ihn plötzlich so fest in die Arme, wie er es von einem so zarten Mädchen nicht erwartet hätte. Sie drückte ihn so fest, dass er kaum atmen konnte, weinte leise an seiner Schulter und sagte: »Alles ist gut, Bek, ich bin hier bei dir, ich bin hier.«
Nun hörte er auf zu singen und erwiderte die Umarmung, und in der anschließenden Stille schloss er die Augen und formte mit den Lippen ein einziges Wort.
Bleibe.
Kapitel 58
Sie hatte sich in der dunkelsten Ecke verkrochen, die sie finden konnte, denn in der Schwärze um sie herum waren die Wesen, die sie quälten. Was das für Wesen waren, wusste sie nicht, auf jeden Fall durfte sie nicht zu genau hinsehen. Sie waren gefährlich, und wenn sie einen Blick in ihre Augen erhaschen könnten, würden sie wie Wölfe über sie herfallen. Also verharrte sie still und schaute sie nicht an, in der Hoffnung, sie würden verschwinden.
Aber sie wollten nicht verschwinden, und so saß sie in der Falle, ohne eine Fluchtchance. Sie war sechs Jahre alt, und sie stellte sich die Wesen in der Dunkelheit wie Ungeheuer in schwarzen Mänteln vor. Lange Zeit war sie von ihnen verfolgt worden, und weil sie ihr so ausdauernd nachspürten, wusste sie, dass die Jagd niemals aufhören würde. Wenn sie nur an ihnen vorbeikäme und den Weg nach Hause zu ihren Eltern und ihrem Bruder fände, wäre sie wieder in Sicherheit. Doch man ließ sie nicht.
An ihr Heim konnte sie sich gut erinnern. In Gedanken sah sie die Zimmer vor sich. Das Haus war nicht groß gewesen, doch es hatte ihr Wärme und Geborgenheit geboten. Ihre Eltern liebten sie und sorgten für sie, und auf ihren kleinen Bruder hatte sie aufgepasst. Dann hatte sie alle miteinander enttäuscht. Sie war von ihnen fortgelaufen, war von ihrem Zuhause geflohen, weil die schwarzen Wesen kamen, und sie wusste, wenn sie bliebe, würde sie sterben. Kurz entschlossen und Hals über Kopf ergriff sie die Flucht, und die führte weg von allem, was sie kannte - hierher, zu diesem Ort der schwarzen Leere, wo alles fremd war.
Hin und wieder hörte sie ihren Bruder aus der Ferne rufen. Sie erkannte Beks Stimme, obwohl es die eines Erwachsenen war, und er war doch erst zwei Jahre alt und sprach kaum mehr als ein paar Worte. Manchmal sang er für sie, Lieder von der Kindheit und von ihrem Zuhause. Gern hätte sie ihm geantwortet und ihm zugerufen, wo sie war, doch hatte sie Angst. Wenn sie auch nur ein einziges Wort sprach oder einen einzigen Laut von sich gab, würden die Wesen in der Dunkelheit wissen, wo sie war, und zu ihr kommen.
Sie hatte kein Gefühl für Raum und Zeit, kein Gefühl für
Weitere Kostenlose Bücher