SHANNICE STARR (German Edition)
merklich kühler. »Ich sehe leider keinerlei Veranlassung, Ihnen über vertrauliche Gespräche Auskunft zu geben.« Er ließ die Worte im Raum stehen und beobachtete die Wirkung seiner aufblühenden Autorität.
Er ist verunsichert, war Shannices einziger Gedanke. Sie beobachtete, dass Blighs Finger die Hutkrempe zerknautschten. Er ist sich nicht im Klaren, ob ich nicht im Auftrag einer höheren Instanz tätig bin.
»Es stimmt«, lenkte der Marshal schließlich ein. »Ich habe mit Frank Gilliam gesprochen. Er kam zu mir und erzählte vom Mord an seinem Sohn.«
Shannice nickte ihm aufmunternd zu und setzte ein freundliches, wenn auch unbeteiligtes Gesicht auf, als würde Bligh ihr nur erzählen, was sie sowieso schon wusste.
»Frank war außer sich. Ich habe ihm versichert, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun würde, um dieses abscheuliche Verbrechen aufzuklären.«
»Was haben Sie unternommen?«, fragte Shannice.
Bligh Miene verfinsterte sich für einen Moment. »Was erwarten Sie? Soll ich mir von jedem Mann und jeder Frau in der Stadt ein Alibi holen? Vielleicht noch von jedem Durchreisenden …?«
Shannice grinste. »Das wäre ein guter Anfang gewesen.«
»Sie sind ja verrückt!« Der Marshal schleuderte den Hut auf den Tisch. »Da könnte ich direkt bei Ihnen beginnen. Sie sind fremd hier und gleich in eine Schießerei geraten. Entweder läuft der Ärger Ihnen nach oder Sie sind der Auslöser dafür. Das reiht Sie doch unweigerlich in den Kreis der Verdächtigen ein.« Bligh saß lauernd vorgebeugt in seinem Stuhl.
»Sie machen einen entscheidenden Fehler«, gab Shannice ruhig zurück. »Sie verwechseln Ursache und Wirkung. Möglich, dass ich in Ihren Augen ein Pistolero bin. Aber nicht immer ist derjenige, der den Schaden davonträgt, auch der Schuldige. Wenn Sie Ihr Pferd von der falschen Seite aufzäumen, könnten Sie in die verkehrte Richtung reiten.«
»Mir reicht’s jetzt!« Bligh sprang auf. »Raus aus meinem Office, bevor ich Sie wirklich einbuchte! Dafür brauche ich nicht mal einen handfesten Grund. In dieser Stadt kann ich machen, was ich will! Und ich werde von allen Seiten volle Unterstützung erhalten!«
»So habe ich mir das vorgestellt.« Shannice schob den Stuhl zurück und stand auf. Die Sympathiepunkte, die der Marshal gesammelt hatte, hatte er in den wenigen Minuten ihrer Unterhaltung vollständig verspielt. »Sie hören noch von mir …«
Ihre letzten Worte wurden übertönt vom Donnern eines schweren Colts. Glas splitterte, und eine Kugel fetzte ein großes Loch in die Landkarte im Rücken des Marshals. Shannice warf sich nach vorne und auf den Boden. Bligh schlug vor Schreck mit dem Kopf gegen die Holzvertäfelung, ging in die Knie und suchte Schutz hinter seinem Schreibtisch, während drei weitere Geschosse in die Tischkante und die Dielen hackten. Noch im selben Augenblick fühlte Shannice den Remington in ihrer Hand und zerschoss die Petroleumlampe an der Decke.
Schlagartig wurde es dunkel – und still!
Den Revolver noch zur Decke gerichtet, lag Shannice auf der Seite. Es roch nach Pulverdampf, und der strenge Geruch von Petroleum stach ihr von den Dielen und der Kleidung in die Nase. Glücklicherweise hatte sich das Zeug nicht entzündet. Unmöglich hätte sie ihre Konzentration auf den Heckenschützen und ein wütendes Feuer gleichzeitig richten können. Denn Bligh würde keine große Hilfe sein. Er war kein Kämpfer. Das war von Anfang an klar gewesen.
»Ist er noch da?«, zischte Stephen Bligh.
»Halten Sie den Mund!«, raunte Shannice dem Marshal zu. Sie richtete ihr Gehör auf jedes verdächtige Geräusch, das von draußen kam. Obwohl sich ihre Augen rasch an die herrschende Dunkelheit gewöhnten, war ihre Sicht stark eingeschränkt. Der Schütze würde dasselbe Problem haben. Also musste er näher kommen, um seine Opfer ins Visier zu nehmen.
Da! Schritte!
Schnell und schleichend.
Geduckt zwängte sich Shannice in den Schutz eines Holzmöbels und nahm einen huschenden Schatten wahr, der neben dem gesplitterten Fenster auch schon wieder mit der Nacht verschmolz. Überdeutlich vernahm sie in der eingetretenen Grabesstille ein metallisches Klacken.
Der Mistkerl lädt seinen Colt nach!, war ihr erster Gedanke. Und es war auch ihr letzter, bevor ihre in harter Schule geprägten Instinkte zur Triebfeder ihres weiteren Handelns wurden.
Unvermittelt sprang Shannice auf! Zwei ausgreifende Schritte und ein beherzter Sprung katapultierten sie durch das
Weitere Kostenlose Bücher