SHANNICE STARR (German Edition)
hattest gestern viel zu tun in deinem Büro«, sagte sie, und ein forschender Blick traf den Mayor.
»Wie meinst du das?«, fragte Gideon J. P. Etherwood, wollte gerade nach der Zeitung greifen und verhielt in der Bewegung. Ein alarmierter Ausdruck trat in sein Gesicht.
»Dieser Gilliam war doch bei dir. Das ist doch der Mann, dessen Sohn ermordet wurde.«
»Zu den Aufgaben eines Bürgermeisters gehört auch der seelische Beistand«, erwiderte Etherwood.
»Der Mann suchte Trost?«, entgegnete Marie-Elizabeth, und ein argwöhnischer Ausdruck trat auf ihre Züge.
»Ich habe versucht, ihn in seiner Situation nach Kräften zu unterstützen.«
»Und?« Etherwoods Frau blickte durchdringend. »Warst du erfolgreich?«
Der Mayor druckste herum. Schließlich meinte er: »Die Familie Gilliam ist an mich herangetreten, um ihren Besitz zu veräußern. Ich habe ihnen ein angemessenes Angebot unterbreitet. Frank Gilliam hat es angenommen.«
»Eine noble Tat«, ließ Marie-Elizabeth ihren Mann wissen.
»Wir haben genug Geld«, erklärte Etherwood. »Warum hätte ich den Gilliams nicht aushelfen sollen …?«
»Wie ich schon sagte«, meinte seine Frau. »Eine noble Tat.«
»Worauf willst du hinaus?« Der Mayor fühlte sich unwohl. Er kannte seine Frau und wusste, dass sie nicht unbedacht daherredete. Aber auf den eigentlichen Punkt ihres Anliegens war sie noch nicht zu sprechen gekommen.
»Du kümmerst dich rührend um die Menschen in dieser Stadt«, erhielt er zur Antwort. »Auch um Clarissa Norrington …«
Gideon J. P. Etherwoods Gesichtsfarbe veränderte sich schlagartig. Die gesunde Rötung seiner Haut wich einer unansehnlichen Blässe.
»Clarissa … Norrington …?«, entgegnete er stockend. »Was soll mit ihr sein?«
»Sie wurde bereits mehrmals gesehen, als sie dein Office verließ. Ist sie auch ein Mensch, der deinen Trost sucht?«
Einen Moment wusste der Mayor darauf nichts zu erwidern. Dann holte er tief Luft.
»Lässt du mich beobachten?«, stieß er hervor. »Was soll diese Frage?«
»Nun«, meinte Marie-Elizabeth, »du bist ein angesehener Mann und nicht gerade arm. Das mag attraktiv wirken auf seichte, jugendliche Gemüter.«
»Es hat auch auf dich attraktiv gewirkt. Du weißt die Annehmlichkeiten des Wohlstands genauso zu schätzen wie jede andere.«
»Wohlstand ist die eine Seite der Medaille«, versetzte die Frau, »Vertrauen die andere.«
»Du glaubst, ich hätte ein Verhältnis mit Miss Norrington?« Etherwood sah keinen anderen Ausweg, als den Verdacht seiner Ehefrau offen auszusprechen.
»Sag du es mir, Gideon«, antwortete Marie-Elizabeth kühl.
»Das ist doch Unsinn!«, wurde Etherwood laut. »Miss Norrington hat lediglich meinen Rat in einer Erbschaftsangelegenheit gesucht.«
»Kein Grund, sich aufzuregen«, beschwichtigte Marie-Elizabeth. »Obwohl deine Reaktion recht aufschlussreich ist.«
»Ich höre mir das nicht länger an!« Die Wut, die aus Angst und Unsicherheit geboren war, ließ Etherwood vom Tisch auffahren. »Falls du etwas von mir willst: ich bin in meinem Office.«
Marie-Elizabeth Etherwood betupfte mit einer Serviette ihre Lippen. »Wartet sie da bereits auf dich?«
»Ende der Diskussion!«, schnitt der Mayor mit der Hand durch die Luft. »Deine Verdächtigungen sind völlig inakzeptabel. Du solltest ein wenig dankbarer sein für das, was du besitzt, und den Status, den du als meine Frau innehast.« Er verschwand in der Garderobe, nahm seinen Hut und verließ kurz darauf das Haus. Marie-Elizabeth hörte die Tür laut ins Schloss fallen.
Nachdenklich nahm sie einen Bissen Brot zu sich und schob den Teller schließlich zur Seite. Ihr einziger Gedanke glich einer finsteren Vorahnung: Große Veränderungen standen bevor …
Die Schmerzen, die die Blessuren der Schießereien hinterlassen hatten, steckte Shannice mit der Gelassenheit der routinierten Kämpferin, die sie war, weg. Vom Marshal’s Office aus hatte sie sich gleich auf den Weg zur Farm der Gilliams gemacht. Der Hengst trottete die letzten Meter zum Hauptgebäude einen schmalen, vereisten Pfad entlang, bis Shannice ihn halten ließ. Das Halbblut stieg aus dem Sattel und ging bis zur Veranda, verharrte kurz und schlenderte drei Stufen hoch. Entschlossen klopfte sie an.
Wenige Sekunden darauf öffnete sich die Tür spaltbreit. Aus dem Schatten, den sie warf, schauten Shannice zwei Augen an und musterten sie durchdringend.
»Wer sind Sie?«, erklang eine weibliche Stimme. »Was wollen
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