SHANNICE STARR (German Edition)
verstehen, dass ich andere Dinge zu regeln habe.«
Doc Jessup wirkte keineswegs überrascht, als er sagte: »Tun Sie, was Sie nicht lassen können.« Er nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche, die zu mehr als zwei Dritteln geleert war. Genüsslich ließ er den Alkohol die Kehle hinablaufen und wischte sich mit dem Hemdsärmel über den Mund. »Der Alte« – er meinte sich selbst – »kann sie anschließend ja wieder zusammenflicken.«
»Warten Sie.« Shannice griff nach ihrem Mantel, der über einer Stuhllehne hing, und kramte ein paar Geldstücke hervor. »Fünf Dollar. Ist das genug?«
Taylor Jessup stutzte, als fühlte er sich in seiner Doktorehre angegriffen, nahm dann jedoch die Münzen.
»Es gibt tatsächlich noch Gerechtigkeit in diesem gottverlassenen Land.« Der Doc ließ die Dollars in seiner Westentasche verschwinden.
Shannice schnallte den Revolvergurt um, der auf dem fleckigen Tisch neben dem Stuhl lag, und wandte sich zum Gehen. »Hauen Sie sich hin, Jessup. Mir scheint, Sie haben den Schlaf nötiger als ich.«
»Das ist eine … gute Diagnose.« Es war fast ein Lallen.
Zielstrebig fand Shannice den Weg zur Straße und überließ den Medicus sich selbst. Ihre Wunde pochte noch, doch darauf konnte sie momentan keine Rücksicht nehmen. Sie hatte das Gefühl, dass sich die Geschehnisse innerhalb kürzester Zeit überschlagen würden. Ihr ausgeprägter Instinkt für heikle Situationen sagte ihr das mit nahezu untrüglicher Sicherheit. Auf jeden Fall musste Shannice sich eingehend mit dem Town Marshal befassen. Er kannte die Zustände in diesem Kaff, würde unter Umständen wertvolle Informationen liefern können, die ein wenig Licht in ihre Nachforschungen bringen konnten. Sie hatte das Feuergefecht glimpflich überstanden und konnte sich nun dem Ränkespiel um die Gilliams widmen. Diese Familie hatte sich durch ehrliche Arbeit etwas aufgebaut, was ihnen skrupellose Geldhaie wegnehmen wollten. Das spornte Shannice umso mehr an, für Gerechtigkeit zu sorgen.
Entschlossen stieß Shannice wenige Minuten darauf die Tür zum Marshal’s Office auf. Bligh saß wie gewohnt hinter seinem Arbeitstisch und wienerte die Waffen.
»Wie’s aussieht, sind Sie über den Berg, Miss«, rief er ihr zu, ohne sonderlich überrascht zu sein. Das letzte Wort betonte er in einer Weise, die Shannice daran erinnerte, dass sie ihm immer noch nicht ihren Namen genannt hatte.
»Shannice«, murmelte sie. »Shannice Starr.« Über ihrer Hüfte stachen zehntausend Nadeln, doch sie verzog keine Miene. »Und um Ihre Frage zu beantworten: Ja, es geht mir besser. Nicht gut, aber immerhin besser.« Sie rückte sich einen Stuhl zurecht und setzte sich darauf. Dem Blick des Marshals wich sie keinen Moment lang aus.
»Womit kann ich Ihnen helfen?« Stephen Bligh legte die Waffen zur Seite, lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und sah Shannice auffordernd an.
»Nun …« Sie zögerte. Einerseits kam ihr die Frage, die sie stellen wollte, reichlich einfältig vor. Andererseits musste sie Gewissheit haben über verschiedene Umstände, die das unvollständige Bild, das sie von Pilgrim’s End und seinen Bewohnern hatte, abrundeten.
»Was hat ein Marshal in so einem Kaff zu suchen?« Gleich darauf schwächte sie ihre Frage ein wenig ab. »Ich meine: In so einem kleinen, abgelegenen Städtchen hätte ich niemals einen Marshal vermutet.«
Bligh antwortete ohne zu überlegen, und es klang wie der Gesetzestext aus einem District County: »Pilgrim’s End hat vor mehr als zwei Jahren Stadtrecht erlangt. Das bedingt die Wahl eines Marshals.« Er knetete seine Finger. »Haben Sie noch weitere Fragen?«
Oh, ja! Die habe ich. Jedoch wollte Shannice es langsam angehen lassen und wich auf ein anderes Thema aus. »Sie kennen Frank Gilliam?«
Da hatte sie doch tatsächlich die Nadel im Heuhaufen gefunden! Blighs Miene wurde blass. Er wollte die Situation überspielen, doch seine Reaktion sprach Bände. »Sicher. Was ist mit Frank?«
»Frank Gilliam war bei Ihnen, weil er einige Probleme hat«, wagte Shannice einen Schuss ins Blaue. »Der Mann hat einen Sohn verloren …« Erinnerte sie sich richtig, war der Name Jeremy gefallen. Die Vermutung, dass es sich um Frank Gilliams Sohn handelte, lag nahe.
»Üble Geschichte«, erwiderte Bligh.
»Was hat Ihnen Gilliam erzählt?«
Bligh nahm seinen Hut ab und strich mit den Fingern die Krempe entlang. »Miss Starr«, begann er eine Erklärung, und sein Tonfall wurde
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