Shantaram
gegen den Irak gefallen. Ich habe zwar eine Schwester im Iran, aber keinen Bruder mehr. Ich bin jetzt ein einzelner Bruder. Es ist ganz schön traurig, ein einzelner Bruder zu sein, oder nicht?«
Ich konnte ihm nicht direkt antworten. Mein eigener Bruder war für mich verloren. Meine ganze Familie war für mich verloren, und ich war mir sicher, dass ich sie nie wiedersehen würde.
»Und ich habe mir überlegt, dass Khaderbhai vielleicht etwas Wahres gesehen hat. Vielleicht sehen wir wirklich wie Brüder aus.«
»Vielleicht ist das so.«
Er lächelte.
»Ich habe beschlossen, Sie zu mögen, Mr. Lin.«
Er sagte das lächelnd und so feierlich, dass ich lachen musste.
»Na, dann sollten wir uns vielleicht von diesem Mr. Lin verabschieden. Mir wird immer ganz anders, wenn ich das höre.«
»Ganz anders?«
»Egal. Lin reicht völlig.«
»Okay. Dann nenne ich dich jetzt Lin. Bruder Lin. Und du sagst Abdullah zu mir, ja?«
»Gerne.«
»Dann wird uns diese Nacht mit dem Konzert der blinden Sänger in Erinnerung bleiben, denn es ist die Nacht, in der wir begonnen haben, uns wie Brüder zu behandeln.«
»Hast du gesagt, der blinden Sänger?«
»Ja. Kennst du sie nicht? Das sind die Blinden Sänger von Nagpur. Sie sind ziemlich berühmt in Bombay.«
»Kommen sie aus irgendeiner Einrichtung?«
»Einer Einrichtung?«
»Ja, einer Blindenschule oder so was.«
»Nein, Lin, mein Bruder. Früher konnten sie sehen, genau wie wir. Aber in einem kleinen Dorf in der Nähe von Nagpur hat es eine Blendung gegeben, und seither sind diese Männer blind.«
Der Lärm ringsum machte mich benommen, und ich empfand den Duft der Früchte und des Charras plötzlich als penetrant und widerwärtig.
»Was soll das heißen, eine Blendung ?«
»Na ja, in den Bergen, nicht weit von ihrem Dorf entfernt, hatten sich Rebellen und Banditen versteckt«, erklärte er in seiner bedächtigen Art. »Die Dorfbewohner mussten denen Essen geben und mit ihnen gemeinsame Sache machen. Sie hatten keine andere Wahl. Dann sind Polizisten und Soldaten gekommen und haben zwanzig Leute geblendet. Um den anderen Dorfbewohnern eine Lektion zu erteilen und um die Leute in den anderen Dörfern zu warnen. So etwas passiert manchmal. Die Sänger waren gar nicht aus dem Dorf. Sie waren nur zu Besuch da, um auf einem Fest zu singen. Sie hatten ganz einfach Pech und wurden mit den anderen geblendet. Die Soldaten haben alle zwanzig Leute, Männer und Frauen, gefesselt und auf den Boden gelegt. Dann haben sie ihnen mit spitzen Bambusstücken die Augen ausgestochen. Und jetzt singen sie hier, überall, und sind berühmt. Und reich außerdem …«
Er redete weiter. Ich hörte zu, doch ich konnte nicht mehr antworten oder auf seine Worte reagieren. Khaderbhai saß neben mir und unterhielt sich mit einem jungen Afghanen, der einen Turban trug. Als sich der junge Mann tief nach unten beugte, um Khaders Hand zu küssen, lugte zwischen den Falten seines Gewandes ein Revolvergriff hervor. Omar kam wieder vorbei und richtete ein weiteres Chillum. Er grinste mit seinem verfärbten Zahnfleisch zu mir hoch und nickte.
»Ja, ja«, wisperte er und starrte mir dabei in die Augen. »Ja, ja.«
Die Sänger kehrten auf die Bühne zurück. Rauchspiralen wanden sich zur Decke empor, wo sie von den träge kreisenden Ventilatoren zerteilt wurden. In diesem grünseidenen Raum, angefüllt mit Musik und Geheimnissen, nahm irgendetwas seinen Anfang für mich. Heute weiß ich, dass es in jedem Leben Anfänge gibt und Wendepunkte; sie sind verknüpft mit dem Glück, dem Willen, dem Schicksal. Der Tag der Flutstöcke, an dem ich in Prabakers Dorf von den Frauen den Namen Shantaram empfangen hatte, war ein solcher Anfang, das weiß ich heute. Und ich weiß, dass alles, was ich in Indien getan hatte und was vor diesem Abend mit den blinden Sängern gewesen war, vielleicht sogar mein ganzes bisheriges Leben, nur dazu gedient hatte, um mich auf diesen Anfang mit Abdel Khader Khan vorzubereiten. Abdullah wurde mein Bruder. Khaderbhai wurde mein Vater. Zu dem Zeitpunkt, als mir das vollständig bewusst wurde und ich die Gründe dafür verstand, hatte mein neues Leben als Bruder und Sohn mich in einen Krieg geführt und in einen Mord verwickelt, und alles hatte sich für immer verändert.
Als der Gesang verstummte, beugte sich Khaderbhai zu mir herüber. Seine Lippen bewegten sich, und ich wusste, dass er etwas zu mir sagte, doch einen Moment lang konnte ich ihn nicht verstehen.
»Entschuldigung,
Weitere Kostenlose Bücher