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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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ich habe Sie nicht verstanden.«
    »Ich habe gesagt, dass die Wahrheit öfter in der Musik zu finden ist als in philosophischen Abhandlungen«, wiederholte er.
    »Und was ist die Wahrheit?«, fragte ich. Eigentlich wollte ich das gar nicht wissen. Ich versuchte nur, meinen Anteil an der Unterhaltung zu bestreiten. Ich versuchte, geistreich zu sein.
    »Die Wahrheit ist, dass es keine guten und keine schlechten Männer gibt«, sagte er. »Nur ihre Handlungen sind gut oder schlecht. Männer sind einfach nur Männer – doch was sie tun oder was sie nicht tun, verbindet sie mit dem Guten und dem Bösen. Die Wahrheit ist, dass ein Augenblick voll wahrer Liebe im Herzen eines jeden Menschen – sei er der edelste Mensch unter der Sonne oder der bösartigste – den ganzen Sinn, die ganze Bedeutung, die ganze Entwicklung des Lebens in den Lotusblättern seiner Leidenschaft birgt. Die Wahrheit ist, dass wir alle, jeder einzelne von uns, jedes Atom, jede Galaxie und jedes Teilchen im Universum zu Gott hinstreben.«
    Diese Worte von Khaderbhai sind nun für immer mein. Ich kann sie hören. Die blinden Sänger sind für immer da. Ich kann sie sehen. Jener Abend und die Männer, die den Anfang formten, Vater und Bruder, sind für immer da. Ich kann sie spüren. Das ist ganz einfach. Ich muss nur die Augen schließen.

Z EHNTES K APITEL
     

    A bdullah nahm seine Bruderrolle ernst. Eine Woche nach der Nacht der blinden Sänger erschien er mit einer Tasche voller Medikamente, Salben und Verbandsmaterial vor meiner Hütte im Slum an der Cuff Parade. Auch ein kleiner Metallkasten mit Operationsbesteck war dabei. Wir gingen die Sachen zusammen durch. Er fragte mich zu jedem einzelnen Medikament, ob es mir etwas nützte und welche Mengen ich davon in Zukunft bräuchte. Als ich alles zu seiner Zufriedenheit beantwortet hatte, wischte er den staubigen Holzhocker ab und setzte sich. Ein paar Minuten lang sah er mir schweigend dabei zu, wie ich die Sachen, die er mitgebracht hatte, in mein Bambusregal einräumte. Ringsum plapperte, krakeelte, sang und lachte der übervölkerte Slum.
    »Wo bleiben sie denn, Lin?«, fragte er schließlich.
    »Wer?«
    »Deine Patienten. Wo sind sie? Ich will sehen, wie mein Bruder sie heilt. Ohne Kranke kann es schließlich keine Heilung geben, nicht wahr?«
    »Ich, äh, ich habe im Moment keine Patienten.«
    »Ach«, seufzte er. Er runzelte die Stirn und trommelte mit den Fingern auf seinen Knien. »Soll ich dir vielleicht welche besorgen?«
    Er machte Anstalten aufzustehen, und ich sah schon vor mir, wie er Kranke und Verletzte gegen ihren Willen zu meiner Hütte schleifte.
    »Nein, nein, nur die Ruhe. Ich hab nicht jeden Tag Sprechstunde. Aber an den Tagen, an denen ich hier bin und Sprechstunde habe, kommen die ersten normalerweise so um zwei Uhr mittags. So früh morgens ist noch keiner da, die arbeiten doch fast alle mindestens bis mittags. Ich selbst
    auch. Ich muss auch Geld verdienen, weißt du.«
    »Und heute nicht?«
    »Nein, heute nicht. Ich habe letzte Woche ganz gut verdient. Das reicht erst mal für eine Weile.«
    »Wie hast du das Geld denn verdient?«
    Er sah mich treuherzig an, ohne auf die Idee zu kommen, dass diese Frage unhöflich sein oder mich in Verlegenheit bringen könnte.
    »Es gehört sich nicht, Abdullah, Ausländer zu fragen, wie sie ihr Geld verdienen«, belehrte ich ihn lachend.
    »Oh, verstehe«, sagte er und grinste. »Du hast es illegal verdient.«
    »Na ja, darum geht es eigentlich nicht. Aber wenn du schon so fragst: stimmt. Da war eine Französin, die ein halbes Kilo Charras kaufen wollte. Das habe ich ihr besorgt. Und dann habe ich einem Deutschen geholfen, einen fairen Preis für seine Canon-Kamera zu kriegen. Von beiden habe ich Provision bekommen.«
    »Und wie viel hast du bei diesen Geschäften verdient?«, fragte er und sah mich unverwandt an. Seine Augen waren hellbraun, beinahe golden, wie die Sanddünen in der Wüste Thar am Tag, bevor es zu regnen beginnt.
    »Plusminus tausend Rupien.«
    »Pro Job?«
    »Nein, für beide zusammen.«
    »Das ist aber gar nicht viel, Lin, mein Bruder«, sagte er mit gerümpfter Nase und verächtlich geschürzten Lippen. »Das ist wirklich wenig Geld, lächerlich wenig.«
    »Für dich vielleicht«, rechtfertigte ich mich, »aber mich hält es eine Woche über Wasser.«
    »Und jetzt hast du frei, ja?«
    »Frei?«
    »Du hast keine Patienten?«
    »Nein.«
    »Und keine Provisionsgeschäfte?«
    »Nein.«
    »Gut. Dann gehen wir jetzt, du

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