Shantaram
Khader in der Mitte, Abdullah zu seiner Rechten, ich zu seiner Linken. Ein Junge mit Hadji-Kappe und afghanischer Hose und Weste brachte uns eine Schale scharf gewürzten Chili-Puffreis und einen Teller mit gemischten Nüssen und Trockenfrüchten. Der Teekellner goss uns aus einer Kanne mit schmalem Schnabel aus einem Meter Höhe heißen Schwarztee ein, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. Nachdem vor jedem von uns eine Tasse stand, bot er uns Würfelzucker an. Ich wollte den Tee eigentlich ohne Zucker trinken, doch Abdullah hatte Einwände.
»Kommen Sie, Mr. Lin«, sagte er lächelnd. »Wir trinken persischen Tee, oder? Und zwar echt iranisch.«
Er klemmte einen Zuckerwürfel fest zwischen die Vorderzähne. Dann setzte er das Glas an und schlürfte den Tee durch den Würfel. Ich tat es ihm gleich. Der Zuckerwürfel löste sich auf, und obwohl mir der Tee auf diese Art eigentlich zu süß war, hatte ich Freude an diesem fremden Brauch.
Khaderbhai nahm sich auch einen Würfelzucker, klemmte ihn zwischen die Zähne und trank so seinen Tee, wobei dieses kleine Ritual bei ihm besonders feierlich und würdevoll aussah, wie überhaupt jeder Ausdruck, jede noch so beiläufige Geste. Abdel Khader Khan war das erhabenste menschliche Wesen, dem ich je begegnet war. Als ich ihn betrachtete, wie er, den Kopf leicht geneigt, Abdullahs beschwingten Worten lauschte, kam mir der Gedanke, dass Khaderbhai in jedem Leben und in jeder Welt über Männer herrschen und ihren Gehorsam erlangen würde.
Jetzt gesellten sich drei Sänger zu den Musikern und ließen sich vor ihnen nieder. Allmählich senkte sich Stille über den Raum, und die drei begannen mit kräftigen, ergreifenden Stimmen zu singen. Die Musik war opulent, vielschichtig und hinreißend, von leidenschaftlicher Intensität. Die Männer sangen nicht nur, sie weinten und klagten mit ihren Liedern. Aus ihren geschlossenen Augen rannen Tränen und tropften ihnen auf die Brust. Der Gesang überwältigte und beschämte mich zugleich. Es war, als gewährten die Sänger mir Einblick in ihre tiefsten, intimsten Gefühle, ihre Liebe, ihre Trauer.
Sie sangen drei Lieder und verließen dann leise die Bühne, verschwanden durch einen Vorhang in einen anderen Raum. Während der Darbietung hatten die Leute still und reglos zugehört, doch jetzt begannen plötzlich alle auf einmal zu reden, um den Bann zu brechen, in den die Musik uns geschlagen hatte. Abdullah stand auf und durchquerte den Raum, um mit einer Gruppe Afghanen an einem anderen Tisch zu spechen.
»Wie hat Ihnen der Gesang gefallen, Mr. Lin?«, fragte Khaderbhai.
»Sehr gut. Es war unglaublich, fantastisch. Ich habe so was noch nie gehört. Es lag so viel Trauer in der Musik, aber auch eine ungeheure Kraft. Was für eine Sprache war das? Urdu?«
»Ja. Verstehen Sie Urdu?«
»Nein, leider nicht. Ich spreche bloß ein bisschen Marathi und Hindi. Ich habe es nur erkannt, weil da, wo ich lebe, einige Leute Urdu sprechen.«
»Urdu ist die Sprache der Ghazals, und diese Männer sind die besten Ghazal-Sänger in ganz Bombay«, antwortete er.
»Singen sie Liebeslieder?«
Er lächelte, beugte sich zu mir und legte mir die Hand auf den Unterarm. Überall in der Stadt berührten sich die Menschen häufig beim Sprechen, bekräftigten ihre Worte mit einem leichten Druck ihrer Hand. Ich kannte diese Geste aus dem täglichen Umgang mit meinen Freunden im Slum und hatte sie schätzen gelernt.
»Ja, Liebeslieder sind es schon, aber die besten und wahrsten, die es gibt. Es sind Liebeslieder an Gott. Diese Männer singen über die Liebe zu Gott.«
Ich nickte wortlos, doch mein Schweigen ermunterte ihn weiterzusprechen.
»Sind Sie Christ?«, fragte er.
»Nein, ich glaube nicht an Gott.«
»An Gott glauben geht auch gar nicht«, verkündete er und lächelte mich wieder an. »Entweder wir kennen Gott, oder wir kennen ihn nicht.«
»Also, ich habe Gott noch nicht kennen gelernt«, erwiderte ich lachend, »und, ehrlich gesagt, halte ich es nicht für möglich, an Gott zu glauben. Zumindest nicht an eine der Vorstellungen von Gott, denen ich bislang begegnet bin.«
»Oh, ja natürlich, Gott ist unmöglich. Das ist der schlagende Beweis dafür, dass es ihn gibt.«
Er sah mich aufmerksam an. Seine warme Hand ruhte noch immer auf meinem Arm. Sei auf der Hut, dachte ich. Du rutschst gerade in einen philosophischen Disput mit jemandem, der sich mit so was auskennt. Er prüft dich. Das ist eine Prüfung, und das Wasser ist
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