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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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tief.
    » Moment mal – Sie behaupten, dass etwas genau deshalb existiert, weil es unmöglich ist?« Ich ließ das Kanu meines Denkens in die unerforschten Gewässer seiner Ideen gleiten.
    »So ist es.«
    »Bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass alles, was möglich ist, nicht existiert?«
    »Genau!«, bestätigte er und lächelte noch breiter. »Wie schön, dass Sie das verstehen.«
    »Na ja, ich kann das sagen«, erwiderte ich und lächelte zurück, »aber das heißt noch lange nicht, dass ich es auch verstehe.«
    »Ich erkläre es Ihnen. Nichts existiert in der Gestalt, in der wir es sehen. Unsere Augen sind Lügner. Alles, was uns wahr erscheint, ist nur Teil der Illusion. Nichts ist so, wie wir es zu sehen glauben. Sie nicht. Ich nicht. Dieser Raum nicht. Nichts.«
    »Ich begreife das trotzdem nicht. Ich verstehe nicht, warum etwas, das möglich ist, nicht existieren soll.«
    »Lassen Sie es mich anders ausdrücken: Die Schöpfungskraft, die das Leben und die Materie beseelt, die wir um uns herum zu sehen meinen, kann man nicht messen und wiegen und auch nicht in Zeit fassen. Zumindest nicht so, wie wir sie verstehen. Eine Form dieser Schöpfungskraft sind zum Beispiel Lichtphotonen. In ihrer Definition ist das kleinstmögliche Objekt ein unendliches Universum, und das gesamte Universum, das wir kennen, ist für sie nichts als ein Staubkörnchen. Was wir als Welt bezeichnen, ist nichts als eine Vorstellung – und nicht einmal eine besonders gute, noch nicht. Vom Standpunkt des Lichts aus gesehen, des Lichtphotons, das es belebt, ist das Universum, das wir kennen, nicht real. Nichts ist real. Verstehen Sie?«
    »Nicht ganz. Wenn tatsächlich alles, was wir zu wissen glauben, falsch oder eine Illusion ist, weiß doch keiner von uns mehr, wie er sich richtig verhalten oder wie er leben soll. Oder wie er den Verstand nicht verliert.«
    »Wir lügen«, sagte er, und in seinen goldgetupften Bernsteinaugen blitzte echter Humor auf. »Wer bei Verstand ist, kann schlicht und einfach besser lügen als ein Verrückter. Sie und Abdullah sind Brüder. Das weiß ich. Ihre Augen lügen und wollen Sie glauben machen, dass sie die Wahrheit sagen. Und Sie glauben dieser Lüge, weil das einfacher ist.«
    »Und deshalb verlieren wir den Verstand nicht?«
    »Ja. In Ihnen zum Beispiel kann ich meinen Sohn sehen. Ich war nie verheiratet und habe keinen Sohn, aber es gab einen Moment in meinem Leben, in dem ich hätte heiraten und einen Sohn bekommen können. Und dieser Moment war – wie alt sind Sie?«
    »Dreißig.«
    »Genau! Ich habe es gewusst. Der Moment in meinem Leben, in dem ich hätte Vater werden können, liegt genau dreißig Jahre zurück. Wenn ich Ihnen sage, dass ich ganz klar sehe, dass Sie mein Sohn sind und ich Ihr Vater bin, werden Sie das für unmöglich halten. Sie werden sich dagegen wehren. Sie werden die Wahrheit, die ich jetzt sehe und unmittelbar gesehen habe, als wir uns vor einigen Stunden begegnet sind, nicht erkennen. Sie werden es vorziehen, sich eine bequeme Lüge zurechtzulegen und diese auch zu glauben – die Lüge, dass wir Fremde füreinander sind und dass es keine Verbindung zwischen uns gibt. Aber das Schicksal – Sie wissen doch, was ich damit meine, oder? Kismet sagt man auf Urdu dazu – das Schicksal hat fast uneingeschränkte Macht über uns, mit zwei Ausnahmen: Das Schicksal kann unseren freien Willen nicht kontrollieren, und das Schicksal kann nicht lügen. Die Menschen lügen. Sie belügen sich mehr als andere und belügen die anderen öfter, als dass sie ihnen die Wahrheit sagen. Aber das Schicksal lügt nicht. Verstehen Sie?«
    Ich verstand, was er mir sagen wollte. Mein Herz verstand seine Worte, noch während mein aufsässiger Geist sie ablehnte, mitsamt dem Mann, der sie aussprach. Irgendwie hatte er diesen Schmerz in mir entdeckt. Der leere Ort in meinem Leben, der einen Vater gebraucht hätte, war eine Steppe der Sehnsucht. In den einsamsten Stunden jener gehetzten Jahre streifte ich dort umher, so ausgehungert nach der Liebe eines Vaters wie ein ganzer Block verurteilter Männer in der letzten Stunde vor dem Jahresende.
    »Nein«, log ich. »Tut mir leid, aber das sehe ich anders. Ich glaube nicht, dass man etwas einfach dadurch wahr machen kann, dass man es glaubt.«
    »Das habe ich auch nicht gesagt«, erwiderte er geduldig. »Was ich gesagt habe, ist, dass die Realität – so wie Sie und die meisten anderen Leute sie sehen – nicht mehr als eine Illusion ist. Es gibt eine

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