Shantaram
andere Realität, die jenseits von der liegt, die wir mit den Augen sehen. In diese Realität muss man sich mit dem Herzen einfühlen. Anders gelangt man dort nicht hin.«
»Das ist … Ihre Weltsicht ist ziemlich verwirrend. Chaotisch, würde ich sogar sagen. Finden Sie das nicht selbst?«
Er lächelte erneut.
»Zunächst fühlt es sich komisch an, wenn man richtig denkt. Aber es gibt ein paar Dinge, die wir wissen können, die wir erfahren können, ein paar Dinge, deren wir uns sicher sein können, und deshalb ist es relativ leicht. Lassen Sie es mich Ihnen demonstrieren: Um die Wahrheit zu sehen, müssen Sie nur die Augen schließen.«
»So einfach ist das?« Ich lachte.
»Ja. Sie müssen nur die Augen schließen. Mit geschlossenen Augen können wir zum Beispiel Gott erfahren und die Traurigkeit. Wir können Träume erfahren, und wir können die Liebe erfahren. Aber das alles ist nicht real im Sinne unserer üblichen Auffassung von Dingen, die in der Welt existieren und die uns real erscheinen. Wir können sie nicht wiegen oder messen. Wir können mit einem Teilchenbeschleuniger auch ihre Grundbestandteile nicht finden. Und deshalb sind sie möglich.«
Das Kanu meines Denkens begann zu lecken, und ich beschloss, auf der Stelle auszusteigen.
»Ich habe von diesem Lokal hier noch nie gehört. Gibt es viele von der Sorte?«
»Vielleicht fünf«, antwortete er, meinen Themenwechsel gleichmütig hinnehmend. »Finden Sie, dass das viele sind?«
»Vermutlich genug. Aber ich sehe nirgends Frauen. Haben Frauen hier keinen Zutritt?«
»Es gibt kein direktes Verbot.« Er suchte mit gerunzelter Stirn nach den richtigen Worten. »Frauen dürfen hier sein, aber sie wollen es nicht. Die Frauen treffen sich an anderen Orten, um ihren Beschäftigungen nachzugehen oder sich Musik und Gesang anzuhören, und dort würde sie auch kein Mann stören wollen.«
Ein sehr betagter Mann trat zu uns und ließ sich zu Khaderbhais Füßen nieder. Er trug ein schlichtes langes Baumwollhemd und eine dünne, weite Hose, den sogenannten Kurta-Pyjama. Sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen und sein weißes Haar zu einer Art Igelfrisur gestutzt. Der Mann war mager und gebeugt und offensichtlich bettelarm. Nach einem knappen, aber respektvollen, an Khaderbhai gerichteten Kopfnicken begann er, mit seinen knotigen Händen Tabak und Haschisch zusammenzukrümeln.Wenige Minuten später reichte er Khader ein riesiges Chillum und wartete dann, Streichhölzer in der Hand, bis er es anzünden durfte.
»Das ist Omar«, sagte Khaderbhai und hielt inne, das Chillum schon fast an den Lippen. »In ganz Bombay macht keiner so gute Chillums wie er.«
Omar zündete Khaderbhai das Chillum an und sonnte sich mit zahnlosem Grinsen in seinem Lob. Dann reichte er die Pfeife mir, prüfte mit kritischem Blick meine Technik und die Kraft meiner Lunge und grunzte zustimmend. Als Khader und ich zweimal gezogen hatten, nahm Omar das Chillum und rauchte es mit gewaltigen Zügen, bei denen seine schmale Brust fast zu bersten schien, zu Ende. Als er fertig war, klopfte er einen kleinen Rückstand weißer Asche aus. Er hatte das Chillum praktisch leer gesogen und nahm stolz Khaderbhais anerkennendes Nicken entgegen. Trotz seines hohen Alters erhob er sich mühelos aus seiner sitzenden Haltung, ohne sich mit den Händen abzustoßen, und humpelte davon, während die Sänger wieder auf die Bühne kamen.
Abdullah kehrte an unseren Tisch zurück und brachte eine Kristallschüssel mit Obstsalat aus Papaya, Wassermelonen und Mangos mit. Der Duft der Früchte umhüllte uns, während ihr Aroma sich in unserem Mund entfaltete. Die Sänger begannen ihre nächste Darbietung. Diesmal sangen sie nur ein einziges Lied, das fast eine halbe Stunde dauerte. Es war ein schwelgerischer dreistimmiger Gesang, der auf einer einfachen Melodie und improvisierten Kadenzen aufbaute. Die Musiker, von denen die drei Männer mit Harmonium und Tablas begleitet wurden, waren lebhaft, doch die Sänger sangen ausdruckslos, mit geschlossenen Augen und reglosen Händen.
Die Clubgäste brachen ihr Schweigen wieder in dem Moment, als die Sänger die kleine Bühne verließen, und begannen lautstark zu reden. Abdullah beugte sich zu mir herüber.
»Auf der Fahrt hierher habe ich über das Brudersein nachgedacht, Mr. Lin. Über das, was Khaderbhai gesagt hat.«
»Lustig – ich auch.«
»Meine beiden Brüder – wir waren drei Brüder in meiner Familie im Iran – sind beide tot. Sie sind im Krieg
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