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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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mit liebevoller Anerkennung belohnt. Wir mussten nur die Köpfe von den verdreckten Abwasserrinnen heben, und schon blickten wir in einen bunten Reigen lächelnder Gesichter.
    Als Oberhaupt des Slums war Qasim Ali Hussein bei diesen Vorbereitungen auf die Regenzeit an jedem Plan und jeder Entscheidung beteiligt. Seine Autorität war klar und unangefochten, doch er übte sie subtil und unaufdringlich aus. Ein Zwischenfall, der sich in den Wochen vor der Regenzeit zutrug, brachte mich in den Wirkungskreis seiner Weisheit und zeigte mir, warum diese so bewundert wurde.
    Eine ganze Schar von uns hatte sich eines Nachmittags in Qasim Alis Hütte versammelt, um seinem ältesten Sohn zuzuhören, der von seinen Abenteuern in Kuwait erzählte. Iqbal, ein großer, muskulöser Vierundzwanzigjähriger mit offenem Blick und scheuem Lächeln, war erst kürzlich von einem halbjährigen Einsatz als Vertragsarbeiter in Kuwait zurückgekehrt. Viele der jungen Männer waren begierig, aus seinen Erfahrungen zu lernen. Was waren die besten Jobs? Wer waren die besten Arbeitgeber, wer die schlechtesten? Wie ließ sich mit den florierenden Schwarzmärkten in den Golfstaaten und in Bombay zusätzlich Geld verdienen? Iqbal veranstaltete eine Woche lang jeden Nachmittag im Wohnraum der Hütte seines Vaters eine Art improvisierten Unterricht, und die Leute drängten sich bis auf den Vorplatz, um aus seinem kostbaren Wissen zu lernen. An diesem Tag jedoch wurde sein Vortrag jäh von Rufen und Geschrei unterbrochen.
    Wir stürzten aus der Hütte und rannten in Richtung des Tumults. Ganz in der Nähe entdeckten wir eine aufgebrachte Menschenmenge und drängten uns zur Mitte durch, wo zwei junge Männer sich rauften. Sie hießen Faruk und Raghuram, erfuhr ich, und gehörten zu dem Team, das Prabaker half, Stangen und Holzstücke für Hüttenreparaturen zu sammeln. Iqbal und Johnny Cigar trennten die Kämpfenden, und Qasim Ali trat zwischen sie. Seine Anwesenheit beruhigte die zeternde Zuschauermenge sofort.
    »Was ist hier los?«, fragte er in ungewöhnlich strengem Ton. »Warum prügelt ihr euch?«
    »Der Prophet, möge Allah ihm Frieden schenken!«, rief Faruk. »Er hat den Propheten beleidigt!«
    »Und er hat Lord Rama beleidigt!«, versetzte Raghuram.
    Die Menge unterstützte mal den einen, mal den anderen durch Zurufe und Verwünschungen. Qasim Ali ließ die Leute eine halbe Minute krakeelen, dann gebot er mit erhobenen Händen Schweigen.
    »Faruk, Raghuram, ihr zwei seid Freunde, gute Freunde«, sagte er. »Ihr wisst, dass man Meinungsverschiedenheiten nicht durch eine Prügelei löst. Und ihr wisst außerdem, dass ein Kampf zwischen Freunden und Nachbarn der schlimmste Kampf ist, den es gibt.«
    »Aber der Prophet, Friede sei mit ihm! Raghu hat den Propheten beleidigt. Ich musste mich mit ihm prügeln«, jammerte Faruk. Er war immer noch wütend, wurde unter Qasim Alis hartem Blick allerdings zusehends kleinlaut und konnte dem alten Mann nicht in die Augen sehen.
    »Und was ist mit der Beleidigung von Lord Rama?«, begehrte Raghuram auf. »Ist das nicht auch ein Grund –«
    »Es gibt keine Entschuldigung!«, donnerte Qasim Ali und brachte alle zum Verstummen. »Es gibt keinen Grund, der rechtfertigen könnte, dass wir Streit mit den Unseren beginnen. Wir sind alle arm. Wir haben mehr als genug Feinde außerhalb des Slums. Und wir haben keine Wahl: Entweder wir leben zusammen, oder wir müssen sterben. Ihr zwei jungen Dummköpfe habt unseren Leuten, egal welchen Glaubens, und damit auch den euren geschadet. Und ihr habt mich furchtbar beschämt.«
    Die Menge war mittlerweile auf über hundert Menschen angewachsen. Ein Raunen und Rumoren war zu vernehmen, und die Leute steckten die Köpfe zusammen. Wer in der Mitte bei Qasim stand, gab an die Außenstehenden weiter, was er gesagt hatte. Faruk und Raghuram ließen unglücklich die Köpfe hängen. Qasims Vorwurf, dass sie ihn beschämt hätten, nicht etwa sich selbst, war ein empfindlicher Schlag.
    »Ihr müsst beide bestraft werden«, sagte Qasim etwas milder, als sich die Menge einigermaßen beruhigt hatte. »Eure Eltern und ich werden heute Abend über eine Strafe für euch nachdenken. Und bis dahin werdet ihr den Bereich um die Latrine herum säubern.«
    Wieder erhob sich Gemurmel. Konflikte mit religiösem Hintergrund waren brisant, und die Leute waren froh, dass Qasim den Vorfall ernst nahm. Viele der Stimmen um mich herum sprachen von der Freundschaft zwischen Faruk und Raghuram, und mir

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