Shantaram
wurde klar, dass Qasim recht hatte – der Kampf zwischen engen Freunden unterschiedlichen Glaubens schadet jeder Gemeinschaft. Dann nahm Qasim Ali den langen grünen Schal ab, den er immer um den Hals trug, und hielt ihn hoch, sodass alle ihn sehen konnten.
»Ihr werdet jetzt bei der Latrine arbeiten. Doch vorher, Faruk und Raghuram, werde ich euch mit diesem Schal aneinanderbinden. Er soll euch daran erinnern, dass ihr Freunde und Brüder seid, während euch beim Säubern der Latrine der Gestank dessen, was ihr euch heute angetan habt, in die Nase steigt.«
Er kniete sich hin und band die beiden jungen Männer am Knöchel zusammen, Faruks rechtes Bein an Raghurams linkes. Dann richtete er sich auf, wies mit ausgestrecktem Arm in Richtung Latrine und befahl den beiden, sich an die Arbeit zu machen. Die Menge teilte sich vor ihnen, und die jungen Männer versuchten loszugehen, doch sie stolperten und begriffen schnell, dass sie sich aneinander festhalten und im Gleichschritt gehen mussten, wenn sie überhaupt vorwärtskommen wollten. Sie schlangen die Arme umeinander und humpelten auf drei Beinen fort.
Die Menge sah ihnen nach und begann dann unisono, Qasim Alis Weisheit zu preisen. Plötzlich wurde wieder gelacht, wo kurz zuvor noch Angst und Anspannung geherrscht hatten. Ein paar Leute wandten sich um und wollten mit Qasim reden, doch der war bereits auf dem Weg zu seiner Hütte. Ich stand nahe genug, um zu sehen, dass er lächelte.
Und ich hatte das Glück, dieses Lächeln in jenen Monaten häufig zu erleben. Qasim kam zwei- oder dreimal die Woche zu meiner Hütte, um sich zu vergewissern, dass ich mit der wachsenden Zahl von Patienten zurechtkam, die meine Hilfe in Anspruch nahmen, seit Doktor Hamid Überweisungen von mir akzeptierte. Gelegentlich brachte das Slumoberhaupt jemanden mit – ein Kind, das von Ratten gebissen worden war, oder einen jungen Mann, der sich auf der Baustelle neben dem Slum verletzt hatte. Nach einer Weile verstand ich, dass er diese Leute persönlich zu mir brachte, weil sie sich aus dem einen oder anderen Grund scheuten, allein zu mir zu kommen. Manche waren einfach zu schüchtern. Andere hatten Ressentiments gegen Ausländer und trauten ihnen nicht. Wieder andere waren nicht bereit, sich auf andere Medikamente als die traditionellen Hausmittel einzulassen.
Mit den Hausmitteln hatte ich gewisse Probleme. Im Großen und Ganzen fand ich sie gut und setzte sie sogar selbst ein, wo immer es möglich war, zog bestimmte ayurvedische Arzneien den entsprechenden westlichen Pharmazeutika vor. Einige dieser Behandlungen allerdings schienen weniger auf therapeutischen Traditionen denn auf obskurem Aberglauben zu beruhen. Sie widersprachen dem gesunden Menschenverstand ebenso sehr, wie sie den einfachsten medizinischen Erkenntnissen hohnsprachen – die Praxis etwa, einen stramm am Oberarm angelegten farbigen Kräuterwickel als Mittel gegen Syphilis einzusetzen. Oder die Arthritis- und Rheumatherapie: Mit einer Eisenzange wurden rotglühende Kohlen aus dem Feuer geholt und an Knie und Ellenbogen der Leidenden gehalten. Qasim Ali sagte mir einmal unter vier Augen, dass er nichts von diesen extremen Heilmitteln halte, doch er verbot sie nicht. Stattdessen besuchte er mich regelmäßig, und weil die Leute ihn liebten, folgten sie seinem Beispiel und kamen in größerer Zahl zu mir.
Die nussbraune Haut an Qasim Alis magerem, sehnigem Körper war so glatt und straff wie das Leder eines Boxhandschuhs. Sein dichtes silbergraues Haar war kurz geschnitten, und er hatte einen kleinen Kinnbart, der eine Spur heller war als sein Haar. Meist trug er eine Baumwoll-Kurta und eine schlichte weiße Hose im westlichen Stil, einfache, preiswerte Kleider, die jedoch immer frisch gewaschen waren. Und Qasim Ali zog sich zweimal täglich um. Ein weniger angesehener Mann mit solchen Kleidungsgewohnheiten wäre wohl als Dandy betrachtet worden, doch Qasim Ali wurde im Slum mit liebevollem und bewunderndem Lächeln empfangen, wohin er auch kam. Seine makellos sauberen weißen Kleider waren für uns alle ein Symbol seiner Spiritualität und seiner moralischen Integrität – Qualitäten, auf die wir ebenso angewiesen waren wie auf das Wasser aus dem öffentlichen Reservoir.
Er war hochgewachsen, und man sah ihm seine fünfundfünfzig Jahre nicht an. Mehr als einmal sah ich ihn mit seinem jungen Sohn von den Wassertanks zu seiner Hütte um die Wette rennen, die schweren Wasserkanister auf den Schultern, und jedes Mal
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