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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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Morgen? Das heißt, wie lange?«
    »Seit drei Stunden, vielleicht sogar mehr. Ich bin selbst gerade erst gekommen. Die anderen haben mir davon erzählt. Deshalb habe ich dich gleich rufen lassen, Qasimbhai.«
    Qasim Ali zog verärgert die Augenbrauen zusammen und fixierte Johnny mit finsterer Miene.
    »Das ist nicht das erste Mal, dass Joseph seine Frau schlägt. Warum hast du nicht eingegriffen?«
    »Ich …«, begann Johnny, doch er hielt Qasims Blick nicht stand und schaute auf den steinigen Boden. Er schien wütend und zugleich den Tränen nahe. »Ich habe keine Angst vor ihm! Ich habe vor keinem Mann hier Angst, das weißt du! Aber sie sind … sie sind … sie ist seine Frau …«
    Die Menschen im Slum lebten in solch drangvoller Enge, dass selbst die intimsten Laute und Regungen ihres Lebens unablässig miteinander verwoben waren. Und wie alle Menschen auf der Welt scheuten auch sie davor zurück, bei sogenannten Familienstreitigkeiten einzugreifen, selbst wenn diese angeblichen Streitigkeiten gewalttätig wurden. Qasim Ali legte Johnny mitfühlend und beruhigend die Hand auf die Schulter und befahl ihm, Josephs Gewalttätigkeiten sofort zu beenden. In diesem Moment brach in der Hütte erneut lautes Geschrei aus, man hörte Schläge, und dann ertönte ein markerschütternder Schrei.
    Mehrere von uns traten vor, entschlossen, den Misshandlungen ein Ende zu setzen. Da flog die klapprige Tür plötzlich krachend auf, und Josephs Frau stürzte durch die Türöffnung und sank ohnmächtig vor unsere Füße. Sie war nackt. Ihr langes Haar war zerzaust und blutverklebt. Offensichtlich war sie mit einem Stock malträtiert worden. Und ihr Rücken, ihr Gesäß und ihre Beine waren mit aufgeplatzten blauroten Striemen überzogen.
    Die Leute schreckten entsetzt zurück. Die Nacktheit von Josephs Frau schockierte sie ebenso wie die schrecklichen Wunden, das wusste ich. Selbst ich empfand so. Nacktheit war in Indien damals so etwas wie eine geheime Religion. Niemand außer Verrückten und Heiligen zeigte sich jemals nackt in der Öffentlichkeit. Freunde aus dem Slum hatten mir sogar erzählt, dass sie ihre eigene Frau noch nie nackt gesehen hätten, obwohl sie schon seit Jahren verheiratet waren. Wir alle waren überwältigt von Mitleid für Josephs Frau, und Scham brannte in unseren Augen.
    Dann drang ein weiterer Schrei aus der Hütte, und Joseph kam herausgetaumelt. Seine Baumwollhose war voller Urinflecken, sein T-Shirt schmutzig und zerrissen. Wilde, belämmerte Trunkenheit entstellte seine Züge. Den Bambusstock, mit dem er seine Frau geprügelt hatte, hielt er noch immer in der Hand. Er blinzelte im hellen Sonnenlicht, dann fiel sein trüber Blick auf seine Frau, die bäuchlings zwischen ihm und der Menschenmenge lag. Er verfluchte sie, trat einen Schritt nach vorn und hob den Stock, um erneut auf sie einzuschlagen.
    Die Schockstarre, die uns alle erfasst hatte, löste sich in einem kollektiven Aufstöhnen, und wir stürzten auf ihn zu, um ihn aufzuhalten. Erstaunlicherweise erreichte der kleine Prabaker Joseph als Erster, und er rang so tapfer mit dem viel größeren Mann, dass es ihm gelang, ihn nach hinten wegzuschieben. Ein anderer wand Joseph den Stock aus der Hand, und dann drückten ein paar Männer ihn auf den Boden. Er schlug kreischend um sich und spie zusammen mit dem Geifer, der ihm aus dem Mund rann, eine Reihe übler Flüche aus. Wehklagend traten einige der Frauen vor. Sie bedeckten Josephs Frau mit einem gelbseidenen Sari und trugen sie fort.
    In diesem Moment hätte die Menge leicht Lynchjustiz üben können, doch Qasim Ali übernahm sofort die Kontrolle. Er befahl den Umstehenden, nach Hause zu gehen oder zumindest zurückzutreten, und den Männern, die Joseph auf dem Boden festhielten, ihn nicht loszulassen. Seine nächste Anweisung überraschte mich. Ich erwartete, dass er die Polizei rufen oder Joseph wegbringen lassen würde. Doch stattdessen fragte er, welchen Alkohol Joseph getrunken hatte, und ordnete an, zwei Flaschen davon herzubringen. Außerdem ließ er Charras und ein Chillum kommen, das Johnny Cigar vorbereiten musste. Als der starke, selbstgebrannte Fusel, den man hier daru nannte, gebracht wurde, befahl er Prabaker und Jeetendra, Joseph zum Trinken zu zwingen.
    Joseph musste sich in die Mitte eines Kreises von kräftigen jungen Männern setzen und bekam eine der Flaschen gereicht. Er starrte die Männer einen Moment lang böse und misstrauisch an, dann schnappte er sich die Flasche und

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