Shantaram
von mein Cousin Shantu.«
»Alles klar.«
»Okay. Geh ich jetzt.«
Er ging hinaus, und als ich wieder allein war, umfingen mich die Geräusche des Slums: die Rufe der Straßenhändler, spielende Kinder, lachende Frauen, Liebeslieder, die auf voller Lautstärke verzerrt aus den Radios dröhnten. Auch Tierlaute, Hunderte. Da uns nur noch wenige Tage vom Beginn des großen Regens trennten, hatten Vagabunden und umherziehende Artisten wie die beiden Bärenführer in den Slums der Stadt Zuflucht gesucht. Unserer beherbergte drei Gruppen Schlangenbeschwörer, einen Trupp Affendompteure und zahlreiche Papageien- und Singvogelzüchter. Die Männer, die ihre Pferde normalerweise auf einem offenen Gelände bei den Marinekasernen anbanden, brachten sie nun in unsere behelfsmäßigen Ställe. Ziegen, Schafe und Schweine, Hühner, Ochsen und Wasserbüffel, sogar ein Kamel und ein Elefant – das Gelände des Slums war eine Art Arche Noah geworden, die Zuflucht vor den bevorstehenden Fluten bot.
Die Tiere waren willkommen, und keiner stellte ihr Recht auf Schutz in Frage, aber ihre Anwesenheit verursachte dennoch neue Probleme. Den Affendompteuren entwischte in der ersten Nacht, als alle schliefen, eins ihrer Tiere. Das neugierige Äffchen kletterte über mehrere Dächer und hangelte sich in die Hütte hinunter, in der ein Schlangenbeschwörertrupp untergekommen war. Die Männer bewahrten ihre Schlangen in Weidenkörben auf, deren Deckel mit einem Knebelverschluss aus Bambus verschlossen und durch einen daraufgelegten Stein zusätzlich gesichert waren. Der Affe nahm den Stein von einem der Deckel weg und öffnete den Korb, in dem sich drei Kobras befanden. Von einem sicheren Aussichtspunkt unter dem Dach der Hütte aus kreischte der Affe dann, bis die Männer aufwachten und Alarm schlugen.
»Saap alla! Saap alla! Saap!« Die Schlangen sind los! Schlangen!
Nun brach Chaos aus. Die verschlafenen Slumbewohner liefen mit Petroleumlampen und Fackeln herum, schlugen nach jedem Schatten und hieben einander mit Stöcken und Stangen auf Füße und Beine. Ein paar der wackeligeren Hütten wurden über den Haufen gerannt. Schließlich stelle Qasim Ali die Ordnung wieder her, indem er die Schlangenbeschwörer in zwei Suchtrupps aufteilte und sie hieß, den Slum systematisch zu durchkämmen, bis sie die Kobras fänden, und sie dann wieder in ihren Korb zu stecken.
Neben ihren diversen anderen Begabungen konnten diese Affen hervorragend klauen. Wie die meisten Slums in der Stadt war auch unserer eine diebstahlfreie Zone. Da wir keine Schlösser an den Türen hatten und es auch keine Orte gab, wo man etwas sicher verstecken konnte, lebten die Affen in einem regelrechten Langfingerparadies. Jeden Tag sahen sich die verlegenen Affendompteure gezwungen, vor ihrer Hütte einen Tisch aufzustellen, auf dem sie die von ihren Affen gestohlenen Gegenstände ausbreiteten, damit die rechtmäßigen Besitzer sie wieder abholen konnten. Die Affen hegten eine besondere Vorliebe für gläserne Armreifen und Arm- oder Fußkettchen aus Messing, wie sie die kleinen Mädchen trugen. Selbst nachdem die Affendompteure den Tieren einen eigenen Vorrat an Talmi gekauft und ihre haarigen Arme und Beine damit behängt hatten, konnten die Affen es nicht lassen, den glitzernden Schmuck zu entwenden.
Qasim Ali entschied schließlich, dass sämtliche Affen laut klingelnde Glöckchen tragen mussten, solange sie im Slum lebten. Die Tiere bewiesen allerdings große Fantasie und Erfindungsgabe, wenn es darum ging, sich dieser Glöckchen zu entledigen oder ihr Geklingel zu dämpfen. Einmal sah ich in der Dämmerung zwei Affen die menschenleere Gasse vor meiner Hütte entlangschleichen. In ihren aufgerissenen Augen las ich Schalk und etwas wie ein äffisch schlechtes Gewissen. Dem einen war es gelungen, die Glöckchen von seinem Hals zu reißen, und nun spazierte er auf den Hinterbeinen hinter dem anderen her und dämpfte das Geklingel von dessen Glöckchen, indem er es mit seinen winzigen Händen festhielt. Doch trotz des Einfallsreichtums der Affen wurden ihre für gewöhnlich lautlosen Diebereien durch die Glöckchen nun häufiger bemerkt als zuvor, was sowohl die Zahl ihrer kleinen Vergehen als auch die Scham ihrer Besitzer deutlich verminderte.
Neben den Fahrenden zog es auch viele Menschen, die auf den Straßen in der Nähe lebten, in die relative Sicherheit, die unser Slum bot. Diese sogenannten Gehwegbewohner errichteten ihre notdürftigen Behausungen auf jedem
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