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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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Fleckchen ungenutzter Fläche und auf jedem Gehweg, der breit genug war, um Passanten Platz zu lassen. Von den Millionen Obdachlosen in Bombay lebten die Gehwegbewohner in den primitivsten Unterkünften und unter den brutalsten Bedingungen. Wenn der Monsun kam, wurde ihre Lebenssituation noch schlimmer und viele von ihnen suchten in den Slums Zuflucht.
    Sie kamen aus allen Teilen Indiens: aus Assam und Tamil Nadu, Karnataka und Gujarat, aus Trivandrum, Bikaner und Konarak. Während des Monsuns drängten weitere fünftausend Menschen in unseren ohnehin schon übervölkerten Slum. Zog man den Platz ab, den Ställe, Läden, Lagerflächen, Straßen, Gassen und Latrinen einnahmen, blieben für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind etwa zwei Quadratmeter übrig.
    Die bedrängende Enge führte zu gewissen Spannungen und zusätzlichen Schwierigkeiten, doch im Großen und Ganzen war man den Neulingen gegenüber tolerant. Ich habe nie jemanden sagen hören, dass man ihnen nicht helfen oder sie nicht willkommen heißen sollte. Das einzige wirkliche Problem kam von außerhalb des Slums. Diese fünftausend zusätzlichen Menschen hatten vorher, genau wie die vielen Tausend, die kurz vor Monsunbeginn in die anderen Slums strömten, auf den Straßen gelebt. Ihre spärlichen Einkäufe hatten sie in den umliegenden Läden getätigt. Einzeln betrachtet, waren es nur kleine Einkäufe – Eier, Milch, Tee, Brot, Zigaretten, Gemüse, Kinderkleidung und so weiter. Doch zusammen machten sie einen beträchtlichen Teil des Umsatzes der jeweiligen Läden aus. Wenn die Leute dann in die Slums zogen, gaben sie ihr Geld vorwiegend in den kleinen Läden dort aus. Die illegalen Slumgeschäfte boten fast alles an, was man auch in den legalen Geschäften der bewährten Einkaufsviertel bekam. Es gab Nahrungsmittel, Kleider, Öle, Hülsenfrüchte, Petroleum, Alkohol, Haschisch und sogar Elektroartikel. Der Slum war mehr oder weniger autark, und Johnny Cigar – der als Finanz- und Steuerberater für die Kleinstunternehmen des Slums tätig war – schätzte, dass die Slumbewohner zwanzigmal mehr Geld im Slum als außerhalb ausgaben.
    Die Ladeninhaber und kleinen Geschäftsleute der Stadt ärgerten sich über die Einbußen und den Erfolg der florierenden Slumläden. Und wenn der drohende Regen selbst die Gehwegbewohner in die Slums trieb, verwandelte sich ihr Ärger alljährlich in Wut. Sie taten sich mit den örtlichen Vermietern, Bauunternehmern und anderen zusammen, die eine Ausweitung der Slums fürchteten und ablehnten. In diesem Jahr hatten sie mit vereinten Mitteln zwei Schlägertrupps aus anderen Vierteln als Colaba angeheuert, um die Versorgungswege der Slumläden zu unterbrechen. Die Zulieferer der Slumläden, die mit Wagenladungen voller Gemüse, Fisch oder Textilien von den großen Märkten kamen, wurden belästigt, man ruinierte ihre Ware, und manchmal kam es sogar zu tätlichen Angriffen.
    Ich hatte schon mehrere Kinder und junge Männer behandelt, die von diesen Gangs überfallen worden waren. Mittlerweile hatte es auch Drohungen gegeben, dass man bei den Angriffen Säure einsetzen würde. Da sich die Slumbewohner nicht an die Polizei wenden konnten – die Bullen waren bezahlt worden, damit sie diskret wegschauten –, taten sie sich zusammen, um sich zu wehren. Qasim Ali stellte Kinderbrigaden auf, die als Wachen am Rand des Slums patrouillierten, sowie mehrere Züge starker junger Männer als Begleitschutz für Leute, die auf den Märkten einkaufen gingen.
    Es hatte bereits mehrere Zusammenstöße zwischen unseren jungen Männern und den Schlägern gegeben. Wir wussten alle, dass die Gewalttätigkeiten mit dem einsetzenden Monsun zunehmen würden. Die Slumbewohner waren angespannt, doch nicht entmutigt, und die Ladenbesitzer im Slum wurden zu regelrechten Helden. Worauf sie wiederum mit besonderen Verkaufsaktionen und reduzierten Preisen reagierten und so für eine regelrechte Volksfestatmosphäre sorgten. Das Ghetto war ein lebender Organismus, der gegen Bedrohungen von außen Antikörper bildete: Mut, Solidarität und jene verzweifelte, großartige Liebe, die wir normalerweise als Selbsterhaltungstrieb bezeichnen. Denn wenn der Slum nicht mehr funktionierte, blieb diesen Menschen nichts.
    Einer der jungen Männer, die bei einem Angriff auf unsere Versorgungswege verletzt worden waren, arbeitete auf einer Baustelle neben dem Slum. Er hieß Naresh und war neunzehn Jahre alt. Seine Stimme und sein selbstbewusstes Klopfen an die offene

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