Shantaram
allein war, fühlte ich mich im Slum gut aufgehoben und auf eine befriedigende Weise beschäftigt. Wenn ich jedoch Freunde von außerhalb sah, wurde ich innerlich ganz klein vor Scham. Angst und Schuldgefühle sind die bösen Geister, von denen die Reichen heimgesucht werden, hatte Khader einmal zu mir gesagt. Ich war mir nicht sicher, ob es sich wirklich so verhielt oder lediglich einem Wunsch von mir entsprach. Die Armen jedoch, das wusste ich aus eigener Erfahrung, wurden von Verzweiflung und einem Gefühl der Erniedrigung heimgesucht.
»Komm doch rein. Das ist wirklich eine Überraschung. Setz dich … hier … ich … ich mach schnell ein bisschen Ordnung.«
Sie setzte sich auf den Holzhocker, während ich nach der Plastiktüte mit den gebrauchten Tupfern und Verbänden griff und schnell den restlichen Abfall dazu warf. Ich säuberte meine Hände noch einmal mit Desinfektionsmittel und räumte die Medikamente in das kleine Regal.
Sie sah sich in der Hütte um, inspizierte sie mit kritischem Blick, und ich sah mein kleines Zuhause plötzlich als die ärmliche Bruchbude, die es eigentlich war. Da ich allein in der Hütte wohnte, empfand ich sie angesichts der drangvollen Enge, die ringsum herrschte, mittlerweile sogar als luxuriös und geräumig. Doch in Karlas Gegenwart kam sie mir schäbig und beengt vor: Der nackte Erdboden war rissig und uneben. Die Wände hatten faustgroße Löcher, die mein Leben dem Trubel und Tumult auf der geschäftigen Gasse aussetzten. Kinder linsten durch die Löcher zu Karla und mir herein, als wollten sie demonstrieren, dass es hier keinerlei Intimsphäre gab. Die Bastmatten des Dachs hingen durch und waren an einzelnen Stellen sogar aufgerissen. Meine Küche bestand aus einem Petroleumkocher mit einer Flamme, zwei Tassen, zwei Blechtellern, einem Messer, einer Gabel und einem Löffel sowie ein paar Dosen mit Gewürzen. Das alles passte in einen Pappkarton, der in einer Ecke stand. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, immer nur Vorräte für eine einzige Mahlzeit zu kaufen, weshalb ich Karla nun nichts zu essen anbieten konnte. Das Wasser in meiner Ton-Matka stammte aus dem Slum. Ich konnte Karla nichts davon anbieten, denn ich wusste, dass sie es nicht trinken würde. Mein gesamtes Mobiliar bestand aus dem Regal für die Medikamente, einem kleinen Tisch, einem Stuhl und einem hölzernen Hocker. Ich wusste noch, wie sehr ich mich gefreut hatte, als ich diese wenigen Möbelstücke bekommen hatte, denn solche Möbel waren im Slum rar. Doch mit Karlas Augen sah ich nun die Sprünge im Holz, die Schimmelflecken und die mit Schnur oder Draht reparierten Stellen.
Ich sah wieder zu ihr hinüber, wie sie auf dem Hocker saß, sich eine Zigarette anzündete und den Rauch seitlich aus dem Mund blies. Ein völlig irrationaler Groll stieg jäh in mir auf. Ich war beinahe wütend, weil ich durch ihre Augen die unschöne Wahrheit über meine Hütte so deutlich gesehen hatte.
»Es ist nichts … nichts Besonderes. Ich …«
»Schon gut«, sagte sie; Karla las in meinen Gefühlen wie in einem Buch. »Ich habe in Goa mal ein Jahr lang in so einer kleinen Hütte gewohnt. Und ich war glücklich. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht lieber wieder dorthin zurückgehen würde. Manchmal denke ich, je kleiner das Haus, desto größer das Glück, und umgekehrt.«
Sie zog die linke Augenbraue hoch, als sie das sagte, eine Aufforderung an mich, zu reagieren, und mit dieser Geste brachte sie alles wieder ins Lot. Ich verspürte keinen Groll mehr. Ich wusste – nein, aus irgendeinem Grund war ich mir plötzlich sicher –, dass der Gedanke, mein Zuhause müsse größer, strahlender, beeindruckender sein, von mir kam und nicht von ihr. Karla urteilte nicht. Sie blickte sich nur um und sah alles, auch das Innerste meines Herzens.
Satish, der zwölfjährige Sohn meiner Nachbarn, kam in die Hütte, seine kleine zweijährige Cousine auf der Hüfte. Er stellte sich vor Karla und starrte sie unbefangen an. Sie erwiderte seinen Blick mit der gleichen Intensität, und mir fiel auf, wie ähnlich sich die beiden in diesem Moment waren, der indische Junge und die europäische Frau. Beide hatten volle, ausdrucksstarke Lippen und nachtschwarzes Haar, und obwohl Karlas Augen grün und seine bronzefarben waren, lag in beiden Augenpaaren der gleiche aufrichtige Ausdruck von Interesse und Humor.
»Satish, chai bono«, bat ich ihn. Mach uns einen Tee.
Er lächelte mich kurz an und eilte dann hinaus. Soviel ich
Weitere Kostenlose Bücher