Shantaram
ich, während ich die Binde mit einer Sicherheitsnadel befestigte. »Wann heiratest du?«
Er stand auf und bewegte den Arm, um den festen Verband etwas zu lockern.
»Wenn Poonam verheiratet ist, müssen erst noch zwei andere Schwestern heiraten«, erklärte er lächelnd und wiegte den Kopf. »Meine Schwestern sind zuerst dran. Hier in unserem Bombay muss man erst Ehemänner suchen, bevor man sich selbst eine Frau suchen darf. Wenigstens wenn man arm ist. Verrückt, nicht? Anchi Mumbai, Mumbai anchi! Es ist unser Bombay, und Bombay gehört uns!«
Er ging, ohne mir zu danken, wie es üblich war bei den Leuten, die ich in meiner Hütte behandelte. Ich wusste, dass er mich demnächst zum Essen einladen oder mir Obst oder besonderes Räucherwerk schenken würde. Die Menschen brachten ihre Dankbarkeit durch Taten zum Ausdruck, statt sie in Worte zu kleiden, und ich war mit diesen Gepflogenheiten inzwischen vertraut.
Als sie Naresh mit einem sauberen Verband aus meiner Hütte treten sahen, näherten sich die nächsten Patienten, um sich behandeln zu lassen. Ich nahm mich der Reihe nach ihrer Beschwerden an – Rattenbisse, Fieber, infizierte Ausschläge, Ringelflechte –, plauderte mit jedem und ließ mir den neuesten Klatsch erzählen, der durch die Gassen wirbelte wie der allgegenwärtige Staub.
Als Letztes kam diesmal eine alte Frau in Begleitung ihrer Nichte. Sie klagte über Schmerzen auf der linken Seite der Brust. Weil Inder jedoch sehr verschämt sind, was Körperlichkeit betrifft, wurde die Untersuchung zu einer komplizierten Angelegenheit. Zunächst bat ich das Mädchen, Hilfe zu holen. Daraufhin gesellten sich zwei ihrer Freundinnen zu uns, die ein Stück dicken Stoff zwischen der alten Frau und mir hochhielten, sodass sie vollkommen verdeckt war. Das Mädchen stellte sich so neben seine Tante, dass es über die Decke hinweg zu mir blicken konnte. Dann berührte ich meine Brust an verschiedenen Stellen, und die junge Nichte wiederholte diese Berührungen auf der Brust ihrer Tante.
»Tut es hier weh?«, fragte ich und drückte oberhalb der Brustwarze auf meine Brust.
Hinter dem Blickschutz drückte die Nichte auf die Brust ihrer Tante und wiederholte die Frage.
»Nein.«
»Und hier?«
»Nein, da auch nicht.«
»Und wie ist es hier?«
»Ja, da tut es weh«, antwortete sie.
»Und hier? Oder hier?«
»Nein, da nicht. Da ein bisschen.«
Mithilfe dieser Pantomime und der unsichtbaren Hände ihrer Nichte kam ich zu dem Schluss, dass die alte Frau zwei schmerzende Knoten in der Brust haben musste. Außerdem fand ich heraus, dass sie Schmerzen hatte, wenn sie tief einatmete oder schwere Gegenstände hob. Ich schrieb einen kurzen Bericht für Dr. Hamid, in dem ich meine Beobachtungen aus zweiter Hand und meine Schlussfolgerungen schilderte. Und gerade als ich dem Mädchen erklärt hatte, dass es seine Tante unverzüglich zu Dr. Hamids Praxis bringen und ihm meinen Bericht geben sollte, hörte ich hinter mir eine Stimme.
»Armut steht dir gut, weißt du das? Wahrscheinlich bist du unwiderstehlich, wenn du erst völlig am Ende bist.«
Überrascht drehte ich mich um und sah Karla mit verschränkten Armen in der Tür stehen. Ein ironisches Lächeln umspielte ihren Mund. Sie war wieder ganz in Grün gekleidet – weite Seidenhose, ein langärmliges Oberteil und dazu ein Umschlagtuch in etwas dunklerem Grün. Die Sonne zauberte kupferfarbene Funken in ihr offenes schwarzes Haar, und ihre Augen leuchteten so grün wie das laue Wasser am flachen Strand einer erträumten Lagune. Sie war beinahe zu schön – wie der zarte Hauch des Sommersonnenuntergangs auf einem himmelweiten Wolkenband.
»Wie lange bist du eigentlich schon hier?«, fragte ich lachend.
»Lange genug, um deine seltsamen Gesundbetungspraktiken mitzuerleben. Heilst du die Leute jetzt per Telepathie?«
»Die Inderinnen sind ziemlich stur, wenn es darum geht, sich von Ausländern die Brüste betasten zu lassen«, antwortete ich, nachdem die Patientin und die Mädchen endlich gegangen waren.
»Nobody’s perfect, wie Didier sagen würde«, sagte Karla gedehnt und verzog den Mund zur Andeutung eines Lächelns. »Er vermisst dich übrigens. Und hat mir aufgetragen, dich zu grüßen. Überhaupt vermissen dich alle. Wir bekommen dich ja nicht mehr zu sehen im Leopold’s, seitdem du diese Rot-Kreuz-Mission gestartet hast.«
Es freute mich, dass Didier und die anderen mich nicht vergessen hatten, aber ich blickte Karla nicht in die Augen. Solange ich
Weitere Kostenlose Bücher