Shantaram
wusste, war noch nie eine ausländische Miss im Slum gesehen worden. Er war begeistert, dass er sie bedienen durfte. Über diese Ehre würde er mit den anderen Kindern noch wochenlang reden.
»Jetzt erzähl mal – wie hast du mich gefunden? Wie bist du überhaupt hier reingekommen?«, fragte ich, als wir allein waren.
»Wie ich reingekommen bin?«, wiederholte sie mit gerunzelter Stirn. »Es ist ja wohl nicht verboten, dich zu besuchen, oder?«
»Nein«, erwiderte ich lachend, »aber es ist auch nicht gerade an der Tagesordnung. Ich bekomme hier nicht gerade viel Besuch.«
»Es war nicht schwer. Ich bin einfach reinmarschiert und hab ein paar Leute gefragt, ob sie mich zu dir bringen können.«
»Und das haben sie gemacht?«
»Nein, nicht ganz. Die passen hier gut auf dich auf, weißt du. Sie haben mich erst zu deinem Freund geführt, zu Prabaker, und der hat mich dann hierhergebracht.«
»Prabaker?«
»Ja, Lin, brauchst du mich?« Prabaker hatte vor der Tür gelauscht und kam augenblicklich hereingesprungen, als sein Name erwähnt wurde.
»Ich dachte, du bist mit deinem Taxi unterwegs«, brummte ich und setzte die strenge Miene auf, von der ich wusste, dass sie ihn besonders erheiterte.
»Mit das Taxi von die mein Cousin Shantu«, korrigierte er mich grinsend. »Ja, ja, stimmt es das. Aber fährt er jetzt mein andere Cousin, heißt er Prakash, und hab ich Pause für Mittag. Zwei prima Stunden. War ich bei dem Johnny Cigar, und sind sie da paar Leute gekommen mit die Miss Karla. Will sie dich sehen, und ich bin gleich sofort gekommen zu dich. Ist das prima sehr gut, ja?«
»Ja, Prabu, sehr gut«, seufzte ich.
Satish kam mit einem Tablett, auf dem drei Tassen mit heißem, süßem Tee standen. Er reichte sie uns und riss dann ein Viererpäckchen Traubenzuckerkekse auf, die er uns mit ernster Feierlichkeit anbot. Ich nahm an, dass er den vierten Keks selbst essen würde, doch stattdessen legte er ihn vorsichtig auf seine Handfläche, ritzte mit seinem schmutzigen Daumennagel eine Markierungslinie in die Mitte und brach ihn entzwei. Dann verglich er die beiden Hälften miteinander, griff nach der minimal größeren und reichte sie Karla. Die andere gab er seiner kleinen Cousine, die sich in den Eingang der Hütte setzte und zufrieden an ihrer Kekshälfte knabberte.
Ich saß auf dem Stuhl mit Lehne, und Satish kam herüber und hockte sich auf den Boden zu meinen Füßen. Er lehnte die Schulter an mein Knie. Ich war großherzig genug, um zu erkennen, dass dieser schüchterne Ausdruck von Zuneigung bei Satish ein echter Durchbruch war. Zugleich war ich jedoch so kleinlich zu hoffen, dass Karla es auch bemerkt hatte und beeindruckt war.
Wir tranken unseren Tee aus, Satish sammelte die Tassen ein und brach dann ohne ein Wort des Abschieds auf. An der Tür nahm er seine Cousine bei der Hand und schenkte Karla noch ein Lächeln und einen treuherzigen Blick unter seinen langen Wimpern hervor.
»Ein netter Junge«, bemerkte sie.
»Ja. Der Sohn meiner Nachbarn. Und du musst ihn verzaubert haben. Er ist sonst ziemlich schüchtern. Und was führt dich in mein bescheidenes Heim?«
»Ach, ich war gerade in der Gegend«, erwiderte sie leichthin, den Blick auf die Löcher in meiner Wand gerichtet, durch die ein Dutzend kleiner Gesichter hereinstarrte. Wir hörten die Stimmen anderer Kinder, die Satish befragten. Wer ist das? Ist das Linbabas Frau?
»So, du bist also ganz zufällig vorbeigekommen. Könnte es vielleicht sein, dass ich dir ein bisschen gefehlt habe?«
»Hey, werd nicht übermütig«, neckte sie mich.
»Ich kann nicht anders. Bei uns in der Familie ist der Übermut genetisch angelegt. Nimm’s nicht persönlich.«
»Ich nehme alles persönlich – dazu ist man schließlich eine Person. Und wenn du mit deinen Patienten fertig bist, lade ich dich zum Mittagessen ein.«
»Eigentlich bin ich schon zum Mittagessen verabredet –«
»Oh. Na gut, dann –«
»Nein, nein. Du kannst gerne mitkommen, wenn du Lust hast. Es ist eine Art offene Einladung. Für alle. Es gibt nämlich etwas zu feiern. Ich würde mich wirklich freuen, wenn du … unser Gast wärst. Ich glaube, es wird dir gefallen. Sag ihr, dass es ihr gefallen wird, Prabu.«
»Werden wir haben ein viel prima ausgezeichnet Mittagessen!«, verkündete Prabaker. »Hab ich für mein werte Person nichts getan in der mein Magen, weil will ich ihm richtig fett machen. Ist es das Essen so wunderbar gut. Wird es dir so gut viel prima schmecken und wirst
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