Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
Vom Netzwerk:
Lohn der Bauarbeiter, den sie ausgeben konnten und vor allem der große Vorrat an Trinkwasser, waren verführerisch. Ganz zu Anfang kamen die Kleinunternehmer, die ihre Chai-Shops oder Lebensmittellädchen entlang des Zauns errichteten. Und tatsächlich krochen die Arbeiter durch Zaunlücken, um auf der anderen Seite ihr Geld auszugeben. Dann gesellten sich Gemüseläden, Schneidereien und kleine Restaurants zu den Chai-Shops und Lebensmittelbuden. Spielhöllen und andere Lasterhöhlen für den Verkauf von Alkohol oder Charras siedelten sich als Nächstes am Zaun an, bis dieser komplett belegt war. Und schließlich begann sich der illegale Slum auf dem offenen Gelände Richtung Meer auszubreiten: Immer mehr Obdachlose strömten herbei und bauten sich auf einem freien Fleck außerhalb des Zauns eine Hütte. Sie rissen neue Löcher in den Zaun, um sich im legalen Slum frisches Wasser zu besorgen. Die Arbeiter nutzten die Schlupflöcher, um im illegalen Slum einzukaufen oder neue Freunde zu besuchen.
    Der illegale Teil des Slums wuchs rasch, aber planlos, allein den Bedürfnissen der Menschen folgend, und stand in chaotischem Kontrast zu den ordentlichen Gassen des Arbeiterslums. Bald kamen auf jeden Einwohner des behördlich genehmigten Slums acht illegale Siedler; insgesamt lebten über fünfundzwanzigtausend Menschen auf dem Areal, und die Abgrenzung zwischen dem legalen und dem illegalen Slum ging zusehends in der schieren Masse der Menschen unter. Obwohl die Stadtverwaltung von Bombay den illegalen Slum missbilligte und die Vertreter des Bauunternehmens den Kontakt zwischen Arbeitern und illegalen Siedlern möglichst zu unterbinden suchten, betrachteten sich die beiden Gruppen als zusammengehörig; ihr Alltag, ihre Träume und Triebe waren im Gewirk des Ghettolebens untrennbar miteinander verflochten. Für die Arbeiter wie für die illegalen Siedler war der Zaun des Bauunternehmens wie alle anderen Zäune: willkürlich und ohne Bedeutung. Einige Arbeiter, die nur ihre nächsten Familienangehörigen in den legalen Slum hatten mitbringen dürfen, luden ihre Verwandtschaft ein, sich jenseits des Stacheldrahts in ihrer Nähe niederzulassen. Zwischen den Kindern auf beiden Seiten entwickelten sich Freundschaften, und bald waren auch Eheschließungen über den Zaun hinweg gang und gäbe – Liebesheiraten und arrangierte Ehen gleichermaßen. Wenn auf einer Seite des Zauns gefeiert wurde, kamen Gäste von beiden Seiten. Und da Feuer, Überschwemmungen und Epidemien ohnehin keine Stacheldrahtbarrieren respektierten, erforderten Notfälle auf beiden Seiten des Zauns die enge Zusammenarbeit aller.
    Karla, Prabaker und ich bückten uns, kletterten durch eine Zaunöffnung und betraten den legalen Slum. Eine Schar Kinder in frischgewaschenen T-Shirts und Kleidchen schlenderte an uns vorbei. Sie kannten Prabaker und mich gut. Viele der Kleinen hatte ich schon behandelt, hatte ihre Schnitt- und Schürfwunden gesäubert und Rattenbisse verbunden. Und etliche Arbeiter, die fürchteten, wegen kleinerer Verletzungen, die sie sich auf der Baustelle zugezogen hatten, von der Arbeit ausgeschlossen zu werden, waren in meine kleine Praxis gekommen, statt zum Sanitäter des Bauunternehmens zu gehen.
    »Du kennst hier ja wirklich jeden«, sagte Karla, als wir zum fünften Mal bei einer Gruppe Nachbarn stehen blieben. »Kandidierst du als Bürgermeister oder so?«
    »Oje, nein. Ich kann Politiker nicht ausstehen. Ein Politiker ist jemand, der dir eine Brücke verspricht, wenn es gar keinen Fluss gibt.«
    »Nicht schlecht«, murmelte sie. In ihren Augen lag ein Lachen.
    »Ich wünschte, das wäre von mir«, sagte ich grinsend. »Aber es stammt von einem Schauspieler namens Amitabh.«
    »Amitabh Bachchan?«, fragte sie. »Der große B höchstpersönlich?«
    »Ja – magst du Bollywood-Filme?«
    »Klar, warum nicht?«
    »Weiß nicht«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Irgendwie habe ich das bei dir … nicht erwartet.«
    Es entstand eine Pause, die sich zu einem unbehaglichen Schweigen ausdehnte. Dann ergriff Karla wieder das Wort.
    »Jedenfalls kennst du hier wirklich jeden. Und die Leute mögen dich alle.«
    Ich runzelte die Stirn, überrascht von dieser Äußerung. Ich hatte mir noch nie Gedanken darüber gemacht, ob die Leute im Slum mich mochten. Ich wusste, dass einige Männer hier mich als Freund betrachteten – Prabaker etwa und Johnny Cigar, sogar Qasim Ali Hussein. Und ich wusste, dass einige andere mir aufrichtigen Respekt

Weitere Kostenlose Bücher