Shantaram
jemand liebt. Die Liebe war nie gut zu mir.«
»Ich glaube, die Liebe ist zu niemandem gut, Karla.«
»Eben deshalb.«
»Aber wenn sie sich einstellt, dann hat man keine Wahl. Ich denke, niemand liebt freiwillig. Und ich … ich will dich nicht unter Druck setzen. Ich liebe dich einfach, das ist alles. Das ist schon länger so, und ich musste es einfach mal sagen. Was nicht heißt, dass du deshalb irgendwas tun müsstest – ich übrigens auch nicht.«
»Aber … ach, ich weiß nicht. Ich bin einfach … oh, verflucht! Jedenfalls hab ich kein Problem damit, dich gern zu haben. Ich hab dich sogar sehr gern. Ich werde dich bis über beide Ohren gern haben, Lin, wenn dir das reicht.«
Ihr Blick war aufrichtig, und doch wusste ich, dass sie mir einiges verschwieg. Er war auch mutig, aber ich sah die Angst darin. Als ich sie versöhnlich anlächelte, lachte sie, und ich stimmte ein.
»Reicht das erst mal?«
»Klar«, log ich. »Klar.«
Doch bereits jetzt wühlte ich, wie die Ghettobewohner tief unter uns, in den Trümmern meines Herzens, um aus den Ruinen etwas Neues zu errichten.
D REIZEHNTES K APITEL
O bwohl nur eine Handvoll Menschen von sich behaupten konnten, Madame Zhou mit eigenen Augen gesehen zu haben, war sie für viele Besucher die Hauptattraktion des Palace, versicherte mir Karla. Madame Zhous Kunden waren allesamt reich, Geschäftsleute in Führungspositionen, Politiker und Gangster. Im Palace wurden ihnen ausländische Mädchen – nur ausländische Mädchen – und raffiniert ausgestattete Räume geboten, in denen sie ihre wildesten sexuellen Fantasien ausleben konnten. Über die absonderlichsten dieser von Madame Zhou persönlich erdachten anrüchigen Vergnügungen tuschelte man in der ganzen Stadt, atemlos und schockiert, doch Madame Zhous einflussreiche Kontakte und die beträchtlichen Bestechungsgelder stellten sicher, dass das Palace vor Razzien oder genaueren Inspektionen bewahrt blieb. Obwohl es andere Etablissements in Bombay gab, die vergleichbare erotische Genüsse und ähnliche Sicherheitsvorkehrungen zu bieten hatten, war keines von ihnen so beliebt wie das von Madame Zhou, weil Madame selbst die Hauptattraktion war. Denn letztlich kamen die Männer nicht wegen der Fertigkeiten und der Schönheit der Mädchen, die sie dort haben konnten, sondern wegen der geheimnisvollen Frau, die sie nicht haben konnten: wegen der unsichtbaren Schönheit von Madame Zhou.
Es hieß, sie sei Russin, doch wie alle anderen Einzelheiten ihres Privatlebens war auch dieses nicht nachprüfbar. Es werde also stillschweigend als wahr akzeptiert, erzählte mir Karla, weil es von allen Gerüchten das beständigste sei. In einem Punkt war man sich allerdings einig: Madame Zhou war in den Sechzigerjahren nach Neu-Delhi gekommen, in einem Jahrzehnt, das für Bombay genauso wild war wie für die meisten westlichen Großstädte. Der neue Teil der Stadt feierte damals gerade sein dreißigjähriges, Alt-Delhi sein dreihundertjähriges Bestehen. Madame Zhou war zu dieser Zeit neunundzwanzig, auch darüber bestand Konsens. Sie war damals wohl Mätresse eines KGB-Offiziers, der mit ihrer einzigartigen Schönheit prominente Vertreter der Kongresspartei bestach. Die Kongresspartei regierte Indien damals mit einem scheinbar durch nichts zu gefährdenden Stimmenvorsprung bei jeder nationalen Wahl. Viele Getreue der Partei – und selbst ihre Feinde – glaubten, dass die Kongresspartei ihre indische Heimat noch hundert Jahre regieren werde. Macht über Kongresspolitiker zu haben bedeutete daher, Macht über das ganze Land zu haben.
Die Gerüchte, die sich um Madame Zhous Jahre in Delhi rankten, reichten von Skandalen über Selbstmorde bis zu politischen Morden. Karla sagte, sie habe mittlerweile von so vielen verschiedenen Leuten so viele Versionen dieser Geschichten gehört, dass sie allmählich glaube, es käme den Leuten gar nicht auf die Wahrheit an, wie auch immer sie aussehen möge. Vielmehr sei Madame Zhou zu einer nationalen Projektionsfläche geworden: Die Leute übertrugen die Details ihrer eigenen Obsessionen auf Madame Zhous Leben. Der eine behauptete, sie besäße Edelsteine, die ein Vermögen wert seien und die sie in einem einfachen Jutesack aufbewahre. Der andere dozierte über ihre Drogenabhängigkeit, und ein dritter flüsterte etwas von satanischen Riten und Kannibalismus.
»Die Leute erzählen sich die seltsamsten Dinge über sie, und einiges ist sicher Schwachsinn, aber eines stimmt auf jeden Fall:
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