Shantaram
Schoß, ihre Augen waren geschlossen. Und während ich sie betrachtete, begann sie zu weinen. Als die Tränen kamen, glitten sie wie Perlen einer Gebetsschnur unter ihren geschlossenen Lidern hervor. Manche Frauen weinen leicht. Ihre Tränen fallen so sanft wie duftende Regentropfen in einem Sonnenschauer und hinterlassen ein klares, gereinigtes, beinahe strahlendes Gesicht. Anderen Frauen fällt das Weinen schwer, und in ihrer Pein bricht ihre ganze Schönheit in sich zusammen. So eine Frau war Karla. Im Rinnsal ihrer Tränen und in ihren gequälten Zügen lag ein tiefer Schmerz.
Hinter dem Gitter spie die rauchige Stimme weiter harsch klingende Worte aus, und Karla schwankte hin und her und weinte lautlos. Ihr Mund öffnete und schloss sich stumm. Ein Schweißtropfen rann von ihrer Schläfe über ihre Wange. Kleine Schweißperlen auf ihrer Oberlippe lösten sich in den Tränen auf. Dann war plötzlich nichts mehr hinter dem Metallgitter: kein Laut, keine Bewegung, nicht einmal die Ahnung eines Menschen. Und mit einem enormen Kraftakt, bei dem ihre Kiefer weiß wurden und ihr ganzer Körper zu zittern begann, strich sich Karla mit den Händen übers Gesicht und gebot den Tränen Einhalt.
Einen Moment lang verharrte sie in Reglosigkeit. Dann streckte sie eine Hand nach mir aus und legte sie auf meinen Oberschenkel, den sie leicht drückte. Es war eine zärtliche, beruhigende Geste, mit der man auch ein verängstigtes Tier beruhigen würde. Sie sah mich an, doch ich war mir nicht sicher, ob sie mich mit ihrem Blick etwas fragen oder mir etwas sagen wollte. Sie atmete hastig und tief, und ihre grünen Augen wirkten fast schwarz in dem dämmerigen Raum.
Ich kapierte überhaupt nichts. Ich hatte den Wortschwall auf Deutsch nicht verstanden und konnte nicht einmal annähernd erahnen, was sich zwischen Karla und der Stimme hinter dem Gitter abgespielt hatte. Ich wollte Karla helfen, wusste aber nicht, warum sie geweint hatte, und mir war bewusst, dass wir vermutlich beobachtet wurden. Ich erhob mich, dann half ich ihr auf. Einen Moment lang lehnte sie das Gesicht an meine Brust. Ich legte ihr die Hände auf die Schultern, um sie zu beruhigen, dann schob ich sie sanft von mir weg. Die Tür öffnete sich, und Rajan kam herein.
»Sie ist so weit«, zischte er.
Karla bückte sich, um die Knie ihrer weiten Hose zu säubern. Dann griff sie nach ihrer Tasche und ging an mir vorbei zur Tür.
»Komm«, sagte sie. »Das Gespräch ist beendet.«
Einen Moment lang betrachtete ich die Spuren, die ihre Knie in dem Brokatkissen am Boden hinterlassen hatten, die rundlichen kleinen Abdrücke. Ich war müde, wütend und verwirrt. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Karla und Rajan von der Tür aus ungeduldig zu mir herüberblickten. Ich folgte ihnen durch die Flure des Palace, und mit jedem Schritt wurde ich ärgerlicher und aufgebrachter.
Rajan führte uns zu einem Raum am Ende des Korridors. Die Tür stand offen. An den Wänden hingen große Filmplakate – Lauren Bacall in Haben und Nichthaben, Pier Angeli in Die Hölle ist in mir und Sean Young in Blade Runner. Eine junge und sehr schöne Frau saß auf dem großen Bett mitten im Zimmer. Ihr blondes Haar war lang und glänzend und endete in üppigen Korkenzieherlocken. Sie hatte große, himmelblaue Augen, die ungewöhnlich weit auseinander standen. Ihre Haut war von einem makellosen Rosa, ihr Mund tiefrot geschminkt. Ein Koffer und eine Kosmetiktasche standen verschlossen vor ihren Füßen, die in goldenen Slippers steckten.
»Scheiße, Mann, wird auch langsam Zeit. Ich bin kurz vorm Durchdrehen.« Ihre Stimme war dunkel, und sie sprach mit kalifornischem Akzent.
»Gilbert musste sich noch umziehen«, sagte Karla, die schon wieder gefasster wirkte. »Und der Verkehr auf dem Weg hierher war eine echte Katastrophe.«
»Gilbert?« Sie rümpfte angewidert die Nase.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte ich, ohne zu lächeln. »Sind Sie startklar?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie mit einem Blick auf Karla.
»Sie wissen es nicht?«
»Du blödes Arschloch!«, fuhr sie mich mit einer derartigen Heftigkeit an, dass ich die Angst dahinter nicht mehr wahrnahm. »Was geht dich das eigentlich an, du Wichser?«
Es gibt eine ganz bestimmte Wut, die man verspürt, wenn Leute es nicht zulassen wollen, dass man ihnen etwas Gutes tut. Diese Wut stieg jetzt in mir auf.
»Also, was ist, kommen Sie mit oder nicht?«
»Hat sie gesagt, dass es okay ist?«, fragte Lisa Karla. Beide Frauen
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