Shantaram
dieses Taxi. Und wohin ich fahre, geht dich nichts an.«
Sie ließ mich stehen.
»Wo hast du denn diesen Typ aufgegabelt?«, hörte ich Lisa fragen, während sie auf das Taxi zusteuerten.
Der Fahrer begrüßte sie mit fröhlichem Kopfwiegen. Als sie an mir vorbeifuhren, hörte ich Musik aus dem Auto, Freeway of Love, und lautes Lachen. Einen Moment lang explodierte eine Fantasie vor meinem inneren Auge: die drei zusammen, nackt. Es war abwegig und lächerlich, das wusste ich wohl, doch das qualvolle Bild ließ mich nicht los, und eine rasende Wut erfasste mich und rüttelte an dem Band des Schicksals und der Zeit, mit dem Karla und ich verknüpft waren. Dann fiel mir ein, dass ich meine Stiefel und Kleider in ihrer Wohnung gelassen hatte.
»Hey«, rief ich dem entschwindenden Taxi nach. »Meine Kleider! Karla!«
»Mr. Lin?«
Neben mir stand ein Mann. Sein Gesicht kam mir bekannt vor, doch ich konnte es nicht gleich zuordnen.
»Was ist?«
»Abdel Khader will sehen Sie, Mr. Lin.«
Als ich Khaders Namen hörte, erinnerte ich mich schlagartig: Der Mann war Nasir, Khaderbhais Fahrer. Der weiße Wagen parkte in der Nähe.
»Wie … Woher haben Sie … Was machen Sie hier?«
»Er sagt, Sie jetzt kommen. Ich fahre.« Er deutete auf den Wagen und machte zwei kleine Schritte, damit ich ihm folgte.
»Lieber nicht, Nasir. Ich habe einen langen Tag hinter mir. Sie können Khaderbhai sagen, dass –«
»Er sagt Sie jetzt kommen«, sagte Nasir grimmig. Auf seinem Gesicht war nicht einmal die Andeutung eines Lächelns zu erkennen, und ich hatte das Gefühl, dass ich handgreiflich werden müsste, wenn ich nicht einsteigen wollte. Ich war in diesem Moment so aufgebracht, so verwirrt und müde, dass ich es tatsächlich einen Moment lang erwog. Letztlich kostet es vielleicht weniger Kraft, mich mit ihm zu prügeln, dachte ich , als mitzugehen. Doch auf Nasirs Gesicht trat nun ein Ausdruck gequälter Konzentration, und er sagte mit ungewohnter Höflichkeit: »Khaderbhai hat gesagt – kommen Sie, bitte – so hat Khaderbhai gesagt – Bitte kommen Sie zu mir, Mr. Lin.«
Das Wort bitte passte nicht zu ihm. Für Nasir war es selbstverständlich, dass sein Herr, Lord Abdel Khader Khan, Befehle erteilte und dass die anderen umgehend dankbar gehorchten. Doch offenbar war ihm aufgetragen worden, meine Gesellschaft zu erbitten, anstatt mich abzukommandieren, und die englischen Worte, die er gerade mit sichtlicher Anstrengung vorgebracht hatte, waren sorgfältig auswendig gelernt. Ich stellte mir vor, wie er durch die Stadt fuhr und die fremden Worte wie eine Beschwörung vor sich hin sprach, mit einer Unlust und einem Unbehagen, als handelte es sich um Teile eines Gebets aus einer anderen Religion. Doch so fremd sie ihm auch sein mochten, auf mich verfehlten die Worte ihre Wirkung nicht, und er sah erleichtert aus, als ich lächelnd nachgab.
»Okay, Nasir, okay«, seufzte ich. »Fahren wir zu Khaderbhai.«
Er wollte mir die hintere Autotür öffnen, doch ich bestand darauf, vorne zu sitzen. Sobald wir losfuhren, schaltete er das Radio an und drehte die Lautstärke auf, vielleicht, um eine Unterhaltung zu verhindern. Ich hatte immer noch den Umschlag in der Hand, den Rajan mir gegeben hatte, und betrachtete ihn nun von beiden Seiten. Er war aus handgeschöpftem Papier, rosa, etwa so groß wie eine Zeitschrift. Und nicht beschriftet. Ich riss ihn auf und fand ein Schwarzweißfoto darin: eine Aufnahme von einem Zimmer, das mit teuren Ziergegenständen aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen angefüllt war. Mitten in diesem absonderlichen Durcheinander saß eine Frau auf einem thronartigen Stuhl. Sie trug ein prachtvolles langes Abendkleid, das sich bis über ihre Füße ergoss. Eine Hand ruhte auf der Armlehne, die andere verharrte in einer Haltung, die ebenso gut ein huldvolles Winken wie eine elegante Geste der Entlassung sein mochte. Das dunkle Haar war aufwendig frisiert und fiel in Ringellöckchen um das rundliche Gesicht. Die mandelförmigen Augen blickten erschrocken und pikiert zugleich in die Kamera und strahlten etwas Neurotisches aus, und die Lippen waren zu einem entschlossenen kleinen Schmollmund geschürzt, der das schwach ausgeprägte Kinn straff zu ziehen schien.
Eine schöne Frau? Das konnte ich nicht finden. Dieses Gesicht strahlte eher unschöne Eigenschaften aus: Hochmut, Gehässigkeit, Angst, Verwöhntheit, Selbstverliebtheit. Das Foto kündete davon, dass all dies und noch Schlimmeres auf sie zutraf. Doch
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