Shantaram
blickten zuerst zu Rajan, dann zu dem Spiegel an der Wand hinter ihm. Ihren Mienen entnahm ich, dass wir von Madame Zhou beobachtet und belauscht wurden.
»Es ist in Ordnung. Sie hat gesagt, dass Sie gehen können«, antwortete ich und hoffte, dass sie meinen wenig überzeugenden amerikanischen Akzent nicht kommentieren würde.
»Im Ernst? Ohne Scheiß?«
»Ohne Scheiß«, sagte Karla.
Das Mädchen stand rasch auf und griff nach dem Gepäck.
»Was ist, worauf warten wir dann noch? Scheiße, schnell raus hier, bevor sie’s sich anders überlegt.«
Rajan hielt mich an der Haustür zurück und reichte mir einen dicken versiegelten Umschlag. Ein letztes Mal bohrte sich sein verstörend bösartiger Blick in meine Augen, dann schloss er die Tür. Ich lief Karla nach, packte sie am Arm und drehte sie zu mir um.
»Was war denn das ?«
»Was meinst du?«, fragte sie mit einem kleinen Lächeln, das den bedrückten Ausdruck in ihren Augen etwas erhellte. »Es hat geklappt. Wir haben sie rausgeholt.«
»Davon rede ich nicht. Ich rede von dir und mir und diesem absurden Spiel, das Madame Zhou da oben gespielt hat. Du hast dir fast die Augen ausgeweint, Karla – was war da los?«
Karla schaute kurz zu Lisa hinüber, die ungeduldig wartete und trotz des milden spätnachmittäglichen Lichts die Augen überschattete. Dann sah Karla wieder mich an. Ihre grünen Augen wirkten verwirrt und müde.
»Müssen wir darüber jetzt hier reden, in der Öffentlichkeit?«
»Nein, müssen wir nicht«, antwortete Lisa an meiner Stelle.
»Mit dir rede ich nicht«, knurrte ich, ohne sie anzusehen. Mein Blick war auf Karlas Gesicht geheftet.
»Mit mir auch nicht«, sagte Karla bestimmt. »Nicht hier. Und nicht jetzt. Gehen wir.«
»Was soll das alles?«, wollte ich wissen.
»Nun reg dich doch nicht so auf, Lin.«
»Ich – mich aufregen?«, rief ich mit erhobener Stimme, womit ich ihr natürlich recht gab. Ich war wütend, weil sie mir so viel verschwiegen und mich so mangelhaft auf das Gespräch vorbereitet hatte. Es verletzte mich, dass sie mir nicht genügend vertraute, um mir die Hintergründe zu erklären. »Sehr witzig, wirklich sehr witzig.«
»Wer ist dieser blöde Idiot?«, schnaubte Lisa.
»Halt den Mund, Lisa«, befahl Karla, wie Madame Zhou es ihr erst vor wenigen Minuten befohlen hatte. Und Lisa reagierte ebenso wie Karla mit unterwürfigem, verdrießlichem Schweigen.
»Ich will jetzt nicht darüber reden, Lin«, sagte Karla und wandte sich mir zu. Ihr Gesichtsausdruck war hart, und sie sah enttäuscht aus. Es gibt kaum eine verletzendere Weise, jemanden anzublicken, und ich litt darunter. Passanten blieben stehen, um uns unverhohlen anzugaffen und zu lauschen.
»Hör zu, ich weiß, dass es hier um mehr geht als um Lisas Befreiung aus dem Palace. Was ist da oben gelaufen? Woher … woher wusste sie Bescheid über uns ? Ich bin angeblich irgendein Typ aus der Botschaft, und sie redet davon, dass ich in dich verliebt bin. Ich kapier das nicht. Und wer zum Teufel sind Ahmed und Christina? Was ist mit ihnen passiert? Wovon hat sie geredet? Im einen Moment bist du unverwundbar, und im nächsten Moment brichst du total zusammen, während Madame Gaga auf Deutsch oder was weiß ich in was für einer Sprache vor sich hin brabbelt.«
»Es war Schweizerdeutsch, wenn du’s genau wissen willst«, fauchte Karla, und ihre zusammengebissenen Zähne wirkten irgendwie gehässig auf mich.
»Schweizerdeutsch, Chinesisch, ist mir doch egal. Ich will nur wissen, was hier läuft. Ich will dir helfen. Ich will wissen … wo ich stehe.«
Immer mehr Leute gesellten sich zu den Schaulustigen. Drei junge Männer lehnten sich aneinander, dicht neben uns, und glotzten uns neugierig und aggressiv an. Der Taxifahrer, der uns hergebracht hatte, stand fünf Meter von uns entfernt neben seinem Wagen, wirbelte sein Taschentuch herum, um sich Luft zuzufächeln, und beobachtete uns lächelnd. Er war viel größer, als ich gedacht hatte – groß und dünn, und er trug eng sitzende Sachen, ein weißes Hemd und eine weiße Hose. Karla warf ihm über die Schulter einen Blick zu. Er wischte sich mit dem roten Taschentuch über den Schnurrbart und band es sich um den Hals. Dann lächelte er sie an, und seine großen weißen Zähne schimmerten.
»Wo du stehst? Auf der Straße vor dem Palace«, sagte Karla. Sie war wütend und traurig und stark – stärker als ich in diesem Moment, und ich hasste sie beinahe dafür. »Ich dagegen setze mich jetzt in
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