Shantaram
und Kinn eine Tätowierung war.
»Rajan ist ein ziemlich unheimlicher Geselle«, murmelte ich, als Karla und ich die Treppe hinaufgingen.
»Er ist einer der beiden persönlichen Diener von Madame Zhou. Er ist Eunuch, ein Kastrat, und noch viel unheimlicher, als er aussieht«, flüsterte sie kryptisch.
Wir stiegen eine breite Treppe mit Teakholzgeländer zum zweiten Stock hinauf. Unsere Schritte wurden von einem dicken Teppichläufer gedämpft. An der Wand hingen gerahmte Fotografien und Gemälde, Porträts. Als ich an den Bildern vorüberging, wurde ich das Gefühl nicht los, dass sich in den geschlossenen Räumen entlang des Flurs lebendige, atmende Menschen aufhielten, doch es herrschte Totenstille. Nicht ein Laut war zu hören. Nichts.
»Verdammt still hier«, sagte ich, als wir vor einer der Türen stehen blieben.
»Es ist Siesta. Jeden Nachmittag von zwei bis fünf. Aber heute ist es noch stiller als sonst, weil sie dich erwartet. Bist du bereit?«
»Ich denke schon. Ja.«
»Dann los.«
Karla klopfte zweimal an die Tür, drehte den Knauf, und wir traten ein. Bis auf einen Teppich und zwei große flache Kissen auf dem Boden und zugezogene Spitzenvorhänge an den Fenstern war der kleine quadratische Raum leer. Karla nahm mich am Arm und führte mich zu den Kissen. Das Halblicht des späten Nachmittags leuchtete hinter den cremefarbenen Spitzenvorhängen. Die hellbraunen Wände waren kahl. An einer Stelle knapp über der Fußleiste war ein Metallgitter in eine Wand eingelassen, das etwa einen Meter mal einen Meter maß. Wir knieten uns auf die Kissen, die vor dem Gitter lagen. Es fühlte sich an, als wollten wir beichten.
»Du machst mich gar nicht glücklich, Karla«, sagte eine Stimme hinter dem Gitter. Verblüfft versuchte ich etwas zu erkennen, doch dahinter war alles schwarz. Madame Zhou saß im Dunkeln, und damit blieb sie unsichtbar. »Und ich bin nicht gern unglücklich. Das weißt du.«
»Glück ist ein Mythos«, stieß Karla wütend hervor. »Er ist in die Welt gesetzt worden, damit wir immer mehr Dinge kaufen.«
Madame Zhou lachte. Es war ein gurgelndes, bronchiales Lachen. Die Art von Lachen, die allem Lustigen den Garaus macht.
»Ach Karla, Karla, du fehlst mir. Und was tust du? Du vernachlässigst mich. Es ist schon viel zu lange her, seit du mich das letzte Mal besucht hast. Ich glaube, du machst mir noch immer Vorwürfe wegen der Sache mit Ahmed und Christina, auch wenn du das Gegenteil behauptest. Wie soll ich dir glauben, dass du mir nicht böse bist, wenn du mich so schrecklich vernachlässigst? Und jetzt willst du mir auch noch meinen Liebling wegnehmen.«
»Es ist ihr Vater, der sie hier rausholen will, Madame«, erwiderte Karla etwas milder.
»Ach so, der Vater …«
Sie sprach das Wort aus, als sei es eine abscheuliche Beleidigung. Ihre Stimme schabte über unsere Haut. Man musste Hunderte von Zigaretten mit extremer Verachtung geraucht haben, um eine solche Stimme zu bekommen.
»Ihre Getränke, Miss Karla«, sagte Rajan. Ich zuckte zusammen. Er hatte den Raum vollkommen lautlos betreten und war hinter mich getreten. Jetzt beugte er sich tief hinunter, um das Tablett zwischen uns auf den Boden zu stellen, und einen Moment lang blickte ich in das schimmernde Schwarz seiner Augen. Seine Miene war gleichgültig, der Blick sprach Bände: Hass, nackter, kalter, unbegreiflicher Hass lag darin. Ich war wie gebannt, bestürzt und seltsam beschämt.
»Das ist also dein Amerikaner«, brach Madame Zhou das Schweigen.
»Ja, Madame. Er heißt Gilbert Parker. Er arbeitet bei der Botschaft, aber natürlich ist das hier kein offizieller Besuch.«
»Natürlich. Geben Sie Rajan Ihre Karte, Mr. Parker.«
Das war ein Befehl. Ich zog eine der Karten aus der Tasche und reichte sie Rajan. Er nahm sie am Rand, als befürchte er, sich anzustecken, ging rückwärts hinaus und schloss die Tür hinter sich.
»Karla hat es mir am Telefon nicht erzählt, Mr. Parker – sind Sie schon lange in Bombay?«, fragte mich Madame Zhou jetzt auf Hindi.
»Nicht sehr lange, Madame.«
»Sie sprechen gut Hindi. Kompliment.«
»Hindi ist eine sehr schöne Sprache«, antwortete ich – einer der Standardsätze, die Prabaker mich gelehrt hatte. »Eine Sprache voller Musik und Poesie.«
»Auch eine Sprache der Liebe und des Geldes«, erwiderte sie glucksend, und ihre Stimme bekam einen gierigen Unterton. »Sind Sie verliebt, Mr. Parker?«
Ich hatte angestrengt überlegt, welche Fragen sie mir stellen könnte,
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