Shantaram
und verkündete, dort werde er auf Karla warten. Ich war oft genug in Bombay Taxi gefahren, um zu wissen, dass der Fahrer mit seinem Angebot dezent seine Fürsorge zum Ausdruck brachte und nicht etwa auf mehr Arbeit oder Trinkgeld spekulierte. Er schien Karla zu mögen. Ich erlebte das nicht zum ersten Mal, diese eigenwillige, spontane Zuneigung. Karla war jung und attraktiv, aber die Reaktion des Fahrers war eher darauf zurückzuführen, dass sie seine Sprache so gut beherrschte und sie auf bestimmte Weise einsetzte. Ein deutscher Taxifahrer würde sich wohl auch freuen, wenn ein Ausländer sich mit ihm in der Landessprache verständigte, und seine Freude zum Ausdruck bringen. Vielleicht aber auch nicht. Dasselbe gilt für französische, amerikanische oder australische Taxifahrer. Aber ein indischer Taxifahrer freut sich so sehr darüber, dass er sich sofort mit Fremden verbunden fühlt, wenn ihm auch nur ein weiteres Detail gefällt – die Augen, das Lächeln oder die Reaktion auf einen Bettler, der ans Fenster des Wagens tritt. Und er ist dann bereit, alles Erdenkliche für den Fremden zu tun, sogar sich in Gefahr zu begeben oder gegen das Gesetz zu verstoßen. Wenn der Fremde ihm eine Zieladresse nennt, die ihm nicht behagt – wie das Palace etwa –, wird der Taxifahrer bereitwillig warten, nur um sicherzugehen, dass der Fremde unversehrt wieder herauskommt. Und wenn der Fremde eine Stunde später aus einem einschlägigen Etablissement herauskäme und ihn völlig ignorierte, würde der Taxifahrer froh sein, dass seinem Fahrgast nichts zugestoßen war, und lächelnd davonfahren. In Bombay habe ich diese Verbundenheit mit Fremden oft erlebt, aber in keiner anderen Stadt. Und das ist einer der zahllosen Gründe, warum ich die Inder liebe: Wenn sie jemanden mögen, tun sie ihre Zuneigung sehr schnell und von ganzem Herzen kund. Karla bezahlte die Fahrt samt dem versprochenen Trinkgeld und bat den Mann, nicht zu warten. Wir wussten beide, dass er es trotzdem tun würde.
Das Palace war ein riesiges dreistöckiges Gebäude mit dreigeteilter Front. Schmiedeeiserne Gitter in Form von Akanthusranken schützten die Fenster auf der Vorderseite. Das Gebäude war älter als viele andere in dieser Straße und nicht renoviert, sondern restauriert worden: Man hatte ursprüngliche bauliche Details sorgsam erhalten. Die schweren steinernen Architrave über Tür und Fenstern wurden von gemeißelten fünfzackigen Sternen gekrönt. Solche Handwerkskunst, einst in der ganzen Stadt verbreitet, fand man heute fast nirgends mehr. An der Fassade, die der schmalen Gasse rechts neben dem Gebäude zugewandt war, hatten die Steinmetze ihre Kunstfertigkeit zur Geltung gebracht – jeder zweite Eckstein vom Boden bis zum Dachgesims war facettiert wie ein Diamant. Über die gesamte Breite des dritten Stocks zog sich ein verglaster Balkon mit Bambusjalousien als Sichtschutz. Die Mauern des Gebäudes waren grau, die Tür war schwarz. Zu meiner Überraschung öffnete sich die Tür, als Karla sie berührte, und wir traten ein.
Wir gelangten in einen langen kühlen Korridor, in dem lilienförmige Glasleuchten mit Rillenschliff ein sanftes Licht verströmten. Die Wände waren tapeziert, sehr ungewöhnlich für Bombay mit seinem feuchtheißen Klima: endlose florale Muster in Olivgrün und fleischfarbenem Rosa. Weihrauch- und Blumenduft hing in der Luft, und die beklemmende, gedämpfte Stille geschlossener Räume umgab uns.
Ein großer hagerer Mann erwartete uns, die Hände locker vor dem Körper gefaltet. Sein feines dunkelbraunes Haar war straff zurückgekämmt und zu einem langen Zopf geflochten, der ihm bis zur Hüfte reichte. Er hatte keine Augenbrauen, aber seine Wimpern waren so dicht, dass sie mir geradezu unecht vorkamen. Von der Unterlippe bis zu seinem spitzen Kinn war seine bleiche Haut mit Schnörkeln und Spiralen bemalt. Er trug einen schwarzen Kurta-Pyjama und durchsichtige Plastiksandalen.
»Hallo, Rajan«, begrüßte ihn Karla eisig.
»Ram Ram, Miss Karla«, antwortete er mit dem klassischen Hindi-Gruß. Es klang wie ein spöttisches Zischen. »Madame wird Sie gleich empfangen. Sie möchten direkt hochgehen. Ich werde Ihnen kalte Getränke bringen. Sie kennen den Weg.«
Er trat beiseite und wies auf die Treppe am Ende des Korridors. Die Finger seiner ausgestreckten Hand, die längsten Finger, die ich je gesehen hatte, waren mit Hennamustern bedeckt. Als wir an ihm vorübergingen, sah ich, dass die Spiralzeichnung auf Unterlippe
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