Shantaram
Afghanistans.
»Das hier ist Sobhan Mahmud – nach der Vorstellungsrunde wollen wir uns beim Vornamen nennen, ja, Lin? Schließlich sind wir hier alle Freunde.«
Sobhan wiegte zur Begrüßung sein grau meliertes Haupt und bedachte mich mit einem stahlharten forschenden Blick, vielleicht um sicherzugehen, dass ich die Ehre, sie alle beim Vornamen nennen zu dürfen, auch zu schätzen wusste.
»Und dieser stattliche, lächelnde Gentleman neben ihm ist mein alter Freund aus Peshawar, Abdul Ghani. Neben ihm sitzt Khaled Ansari, der ursprünglich aus Palästina kommt. Rajubhai stammt aus der heiligen Stadt Varanasi – bist du schon dort gewesen? Nein? Nun, das solltest du möglichst bald nachholen.«
Rajubhai, ein kahlköpfiger, untersetzter Mann mit gepflegtem grauem Schnurrbart, wandte sich mir zu, die Hände zum stummen Gruß aneinandergelegt. Er lächelte, doch der Blick in seinen Augen war hart und misstrauisch.
»Neben unserem lieben Raju«, fuhr Khaderbhai fort, »sitzt Keki Dorabjee, der vor zwanzig Jahren zusammen mit anderen indischen Parsen durch die nationalistische Bewegung von der Insel Sansibar vertrieben wurde und daraufhin nach Bombay kam.«
Dorabjee, ein sehr großer, hagerer Mann Mitte fünfzig, richtete seine dunklen Augen auf mich. Eine solche Schwermut sprach aus seinen Zügen, dass ich nicht umhinkonnte, ihn tröstend anzulächeln.
»Neben unserem Bruder Keki sitzt Farid. Er ist der Jüngste in unserer Gruppe und der einzige Einheimische. Seine Familie stammt aus Gujarat, doch er selbst ist in Bombay geboren. Neben dir siehst du Madjid, der in Teheran zur Welt kam, aber schon seit über zwanzig Jahren hier in unserer Stadt lebt.«
Ein junger Diener trat mit einem Tablett ein, auf dem Gläser und eine silberne Kanne mit Schwarztee standen. Er schenkte uns der Reihe nach ein, zuerst Khaderbhai und ganz am Ende mir. Dann ging er kurz hinaus, kehrte zurück, stellte zwei Schalen mit Süßigkeiten, Laddu und Barfi, auf den Tisch und verließ den Raum endgültig.
Unmittelbar danach traten drei junge Männer ein und ließen sich ein paar Schritte von uns entfernt auf dem Teppich nieder. Sie wurden mir vorgestellt – Andrew Ferreira, ein Goanese, sowie Salman Mustaan und Sanjay Kumar, beide aus Bombay –, doch danach sagte keiner von ihnen mehr einen Ton. Die drei waren offenbar junge Gangster, die in der Hierarchie einen Rang unter den Ratsmitgliedern standen und den Treffen beiwohnen, aber nicht mitreden durften. Sie hörten aufmerksam zu und beobachteten uns genau. Ich drehte mich mehrmals um und stellte jedes Mal fest, dass ihr Blick ernsthaft und prüfend auf mir ruhte. Dieser Blick war mir aus dem Gefängnis wohlvertraut. Sie versuchten abzuwägen, ob sie mir trauen konnten und ob es schwierig sein würde – alte Berufskrankheit –, mich ohne Schusswaffe zu töten.
»Lin, wir unterhalten uns an diesen Diskussionsabenden für gewöhnlich jeweils über ein ganz bestimmtes Thema«, sagte Abdul Ghani in perfektem BBC-Englisch, »aber zunächst würde ich dich gerne fragen, was du hiervon hältst.« Er schob mir ein zusammengerolltes Plakat zu, das auf dem Tisch lag. Ich entrollte es und las die vier fettgedruckten Absätze.
SAPNA
Ihr Menschen Bombays, hört auf die Stimme eures Königs. Euer Traum ist zu euch gekommen: Ich, Sapna, König der Träume, König des Bluts. Eure Zeit ist gekommen, meine Kinder, und die Ketten des Leids werden von euch genommen. Ich bin gekommen. Ich bin das Gesetz. Mein erstes Gebot ist es, dass ihr eure Augen öffnet. Ihr sollt sehen euren Hunger, während sie Nahrung verschwenden. Ihr sollt sehen eure Lumpen, während sie in Seide gehen. Sehen, dass ihr in der Gosse lebt, während sie in Palästen aus Gold und Marmor wohnen. Mein zweites Gebot ist, dass ihr sie alle töten sollt. Tut es mit grausamer Gewalt. Tut es zu meinem Gedächtnis. Ich, Sapna, bin das Gesetz.
So ging es weiter, drei Absätze lang, immer in derselben Tonart. Zunächst fand ich den Text absurd und musste schmunzeln. Doch das Schweigen im Raum und die angespannte Konzentration, mit der mich alle anstarrten, ließ mein Schmunzeln ersterben. Mir wurde klar, dass sie diese Sache sehr ernst nahmen. Da ich nicht wusste, was Abdul Ghani von mir erwartete, las ich das eifernde, irrsinnige Traktat noch einmal, um Zeit zu schinden. Dabei fiel mir ein, dass im Himmelsdorf, dreiundzwanzig Stockwerke über dem Erdboden, jemand den Namen Sapna an die Wand geschrieben hatte. Ich erinnerte mich daran,
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