Shantaram
verändert, so als hätte dieser Typ, wer immer es auch sein mag, Teile aus der Bibel genommen und sie auf den Kopf gestellt.«
»Auf den Kopf gestellt? Wie meinst du das?«, fragte Madjid.
»Na ja, die Sprache ist wie in der Bibel, aber der Inhalt ist genau entgegengesetzt. So wie er das geschrieben hat, hat es die umgekehrte Aussage und Absicht wie das Original. In diesem Sinn hat er die Bibel sozusagen auf den Kopf gestellt.«
Ich hätte noch fortfahren können, doch Abdul Ghani beendete die Diskussion abrupt.
»Danke, Lin. Du hast uns sehr geholfen. Aber lasst uns jetzt von etwas anderem sprechen. Ich für mein Teil rede ausgesprochen ungern über so unangenehme Dinge wie diesen Wahnsinnigen, diesen Sapna. Ich habe das Thema nur angeschnitten, weil Khader mich darum gebeten hat – und Khader Khans Wunsch ist mir Befehl. Aber jetzt sollten wir wirklich zur Sache kommen. Wenn wir nicht bald mit unserem heutigen Thema anfangen, kommen wir überhaupt nicht mehr dazu. Also, rauchen wir etwas und reden wir über andere Dinge. Es ist Brauch bei uns, dass der Gast beginnt. Wärst du also so freundlich?«
Farid stand auf und stellte eine riesige, reich verzierte Wasserpfeife neben dem Tisch auf den Boden. Er verteilte die Rauchschläuche und hockte sich, ein paar Streichhölzer in der Hand, neben die Wasserpfeife. Die anderen verschlossen ihre Schläuche mit dem Daumen, und während Farid ein brennendes Streichholz über dem tulpenförmigen Pfeifenkopf hin und her bewegte, zog ich so lange, bis der Tabak brannte. Es war die Mischung aus Haschisch und Marihuana, die GangaJamuna genannt wird, nach den beiden heiligen Flüssen Ganges und Jamner. Sie war so stark und hatte durch die Wasserpfeife eine derart direkte Wirkung, dass meine Augen den Dienst versagten und ich alles wie durch einen Schleier wahrnahm: Die Gesichter der anderen verschwammen an den Rändern meines Sichtfeldes, und ihre Bewegungen schienen mit einer kleinen zeitlichen Verzögerung stattzufinden. Karla nannte das den Lewis Carroll-Effekt. Ich bin so breit, sagte sie oft, ich krieg den Lewis Carroll. Es kam so viel Rauch aus dem Schlauch, dass ich ihn aus Versehen schluckte und wieder aufstieß. Ich verschloss den Schlauch und sah den Männern zu, wie sie in Zeitlupe rauchten, einer nach dem anderen. Kaum hatte ich das süßliche Grinsen, das sich in die Muskeln meines Gesichts gesetzt hatte, einigermaßen in den Griff gekriegt, war ich schon wieder an der Reihe.
Das Rauchen war ein ernstes Geschäft. Keiner lachte, keiner lächelte. Es wurde kein Wort gesprochen, und keiner sah den anderen in die Augen. Die Männer rauchten mit derselben freudlosen Gleichgültigkeit, die sich einstellt, wenn man mit Fremden eine lange Fahrt im Aufzug vor sich hat.
»So, Lin«, sagte Khaderbhai dann mit liebenswürdigem Lächeln, als Farid die Wasserpfeife wegstellte und den mit Asche gefüllten Pfeifenkopf säuberte. »Es ist ebenso Brauch bei uns, dass der Gast das Thema unserer Diskussion bestimmt. Normalerweise unterhalten wir uns über ein religiöses Thema, aber das muss nicht sein. Worüber würdest du gern sprechen?«
»Ich … äh … ich verstehe nicht ganz?«, stammelte ich. Mein Hirn war gerade dabei, lautlos zu explodieren und Wiederholungen des Teppichmusters aneinanderzureihen.
»Gib uns ein Thema, Lin. Leben und Tod, Liebe und Hass, Treue und Verrat«, erklärte Abdul Ghani und unterstrich jedes der Begriffspaare mit kleinen affektierten Kreisen seiner dicklichen Hand. »Wir sind so eine Art Debattierclub, verstehst du? Wir treffen uns jeden Monat mindestens einmal, und wenn wir das Geschäftliche und Private abgehandelt haben, sprechen wir über philosophische Themen und solcherlei Dinge. Zu unserem Vergnügen. Und jetzt haben wir dich, einen Engländer, eingeladen, damit du uns ein Thema nennst, über das wir in deiner Sprache diskutieren können.«
»Ich bin aber gar kein Engländer.«
»Kein Engländer? Was bist du dann?«, fragte Madjid mit misstrauischem Stirnrunzeln.
Das war eine gute Frage. Dem falschen Pass zufolge, der im Slum in meinem Rucksack steckte, war ich Neuseeländer. Die Visitenkarte in meiner Tasche gab mich als Amerikaner namens Gilbert Parker aus. Die Leute im Dorf Sunder hatten mir den neuen Namen Shantaram gegeben. Im Slum nannte man mich Linbaba. Und in meiner Heimat kannten mich eine Menge Leute als Gesicht auf einem Fahndungsplakat. Aber ist das wirklich meine Heimat?, fragte ich mich. Habe ich überhaupt eine
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