Shantaram
zu sterilisieren. Mit Desinfektionsmittel und warmer Seifenlauge wusch ich die Wunde aus und tupfte sie mit sauberer Gaze trocken. Dann legte ich Amir für zehn Minuten einen festen Gazeverband an, in der Hoffnung, die Wunde zusammenzudrücken und mir das Nähen erleichtern zu können.
Auf mein Drängen trank Amir zwei Becher süßen Tee, um den allmählich zutage tretenden Schocksymptomen entgegenzuwirken. Er hatte Angst, wirkte aber ruhig. Er vertraute mir. Schließlich konnte er nicht wissen, dass ich so etwas erst einmal gemacht hatte, in einer Situation, die dieser verblüffend ähnlich war. Im Gefängnis war ein Mann bei einer Messerstecherei verletzt worden. Der Konflikt zwischen den beiden Beteiligten war durch diese gewaltsame Auseinandersetzung beigelegt worden, und in ihren Augen war die Sache damit erledigt. Doch wenn der Verletzte zur Behandlung auf die Krankenstation des Gefängnisses gegangen wäre, hätte man ihn in einen Isolationstrakt für gefährdete Häftlinge verlegt. Für einige Männer, insbesondere Kinderschänder und Verräter, gab es keine Alternative zu diesem Schutzgewahrsam, denn ohne ihn hätten sie nicht überlebt. Für andere Männer, die gegen ihren Willen dorthin verlegt wurden, war der Schutzgewahrsam ein Fluch: Er setzte sie Verdächtigungen, Verleumdungen und der Gesellschaft von Männern aus, die sie verabscheuten. Deshalb war der Mann zu mir gekommen. Ich hatte seine Wunde mit einer Ledernadel und Stickfaden genäht. Sie war verheilt, aber mit einer hässlichen, wulstigen Narbe. Da ich das nie vergessen hatte, war mir nicht sonderlich wohl zumute, was das Nähen von Amirs Wunde betraf. Das verlegene, vertrauensselige Lächeln, mit dem mich der junge Mann ansah, machte die Sache nicht besser. Menschen verletzen uns mit ihrem Vertrauen, sagte Karla einmal. Der sicherste Weg, jemanden zu verletzen, den man mag, besteht darin, ihm sein volles Vertrauen zu schenken.
Ich trank Tee, rauchte eine Zigarette und machte mich an die Arbeit. Johnny stand in der Tür und versuchte erfolglos, neugierige Nachbarn und ihre Kinder wegzuscheuchen. Die Operationsnadel war gekrümmt und sehr fein. Ich vermutete, dass sie normalerweise zusammen mit einer Pinzette benutzt wurde, doch die befand sich nicht in meinem Verbandskasten. Einer der Jungs hatte sie sich ausgeliehen, um eine Nähmaschine zu reparieren. Ich musste die Nadel mit den Fingern in die Haut stechen und durchziehen, was eine mühsame und glitschige Angelegenheit war und bei den ersten paar Kreuzstichen für eine furchtbare Flickschusterei sorgte. Amir zuckte zusammen und schnitt die wildesten Grimassen, doch er schrie nicht. Beim fünften oder sechsten Stich hatte ich den Dreh dann heraus, und die Prozedur war nicht mehr ganz so widerwärtig, wenn auch für Amir nicht weniger schmerzhaft.
Die menschliche Haut ist fester und elastischer, als sie aussieht. Sie lässt sich relativ einfach nähen, und man kann den Faden recht gut festziehen, ohne dass das Gewebe reißt. Trotzdem bleibt die Nadel, so fein und spitz sie auch sein mag, ein Fremdkörper, und wenn man nicht durch häufige Wiederholung abgehärtet ist, erlebt man es innerlich jedes Mal als Strafe, diesen Fremdkörper in das Fleisch eines anderen Menschen zu stoßen. Trotz der Kühle der Nacht begann ich heftig zu schwitzen. Wie qualvoll diese Tätigkeit war, zeigte sich auch darin, dass Amir mit fortschreitender Behandlung zusehends heiterer wurde, ich dagegen immer angespannter und erschöpfter.
»Du hättest darauf bestehen sollen, dass er ins Krankenhaus geht«, fauchte ich Johnny Cigar an. »Das ist doch absurd!«
»Du machst ein sehr ausgezeichnetes Nähen, Lin«, erwiderte er. »Du könntest ein sehr wunderschönes Hemd nähen mit diesen Stichen.«
»Es ist lange nicht so gut, wie es sein sollte. Er wird eine riesige Narbe kriegen. Ich weiß echt nicht, was ich hier tue.«
»Hast du Probleme mit dein Stuhlgang, Lin?«
»Was?«
»Gehst du nicht aufs Klo? Hast du Verstopfung?«
»Herrgott, Johnny! Was redest du da für einen Schwachsinn?«
»Deine schlechte Laune, Lin. Das ist nicht dein übliches Verhalten. Vielleicht ist es ein Problem mit der Verstopfung, glaube ich?«
»Nein«, stöhnte ich.
»Ah, dann hast du Durchfall.«
»Letzten Monat hat er drei Tage lang Durchfall gehabt«, verkündete eine meiner Nachbarinnen durch die offene Tür. »Mein Mann hat mir erzählt, Linbaba ist er jeden Tag drei-drei-viermal aufs Klo gegangen und nochmal
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